In den letzten Wochen wurde ich mit einigen Einwänden zu meiner Argumentation in den bisherigen hier veröffentlichten Gedanken konfrontiert. In den folgenden Tagen und Wochen werde ich mich nach und nach mit den einzelnen Einwänden und Gegenargumenten auseinandersetzen.
- Die Liebe als hermeneutischer Schlüssel – als «Brille», durch die ich die Bibel lese
- Die Frage der «Autorität» der Heiligen Schrift
- Die Sache mit der Schöpfungsordnung
- Und schliesslich der Vollständigkeit halber: Mein Kommentar zu den drei Bibelstellen, die immer wieder im Zusammenhang mit Homosexualität zitiert werden.
Heute also erstens: Die Liebe als hermeneutischer Schlüssel
Die Einwände und Gegenargumente, die ich oft zu hören und zu lesen kriege, lauten ungefähr so:
- Du machst es dir zu einfach. Mit der Liebe bügelst du über alles Unangenehme und Anspruchsvolle in der Bibel hinweg.
- Du wählst nur, was dir aus der Bibel behagt, verfälschst mit deinem Rosinenpicken den vollen Umfang des Wortes Gottes.
- Du predigst ein Weichspüler-Evangelium.
- Du kannst nicht mit dem Argument der Liebe etwas rechtfertigen, was der Schrift klar widerspricht.
Ich werde im Folgenden nicht die Punkte einzeln widerlegen. Aber am Ende meines Textes sollte zu jedem dieser Einwände (und noch einigen mehr) klar sein, wie ich dazu stehe.
Zuerst muss eines klar sein: Ich stelle die Liebe über alles, weil mir das die Bibel so sagt. Ich frage mich, wie man als Christenmensch, der sich ernsthaft und redlich und im Bestreben, Gottes Wort zu hören und zu verstehen mit der Bibel auseinandersetzt, nicht darauf kommt, die Liebe über alles zu stellen! Wenn ich eine Liste der wichtigsten Bibelstellen zum Thema Liebe aufstellen müsste, ich wüsste nicht wo anfangen, und erst recht nicht, wo aufhören. Die nachstehende Aufzählung ist also nicht vollständig, und die möglicherweise in der Reihenfolge wahrgenommene Gewichtung erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Liebe in der Bibel
1. Jesus nenn die Liebe das grösste Gebot:
Er sagte zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das höchste und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Mt 22, 37-40 (und Parallelstellen)
2. Dieses doppelte Liebesgebot hat schon Mose dem Volk vermittelt. Die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst wird in Lev 19, 18 geboten, die Liebe zu Gott ist zum eigentlichen Bekenntnis Israels geworden:
Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Dtn 6, 4-5
3. Jesus nimmt Liebestaten an unseren Mitmenschen persönlich (und auch den Mangel an Liebe):
Und der König wird ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Mt 25, 40.45
4. Gott ist Liebe:
Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Mt 25, 40.45
5. Aus Liebe sendet Gott seinen Sohn:
Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er den einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Joh 3, 16
6. Liebe ist das Erkennungsmerkmal der Christen für die Welt:
Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt. Joh 13, 34-35
7. Ohne die Liebe ist alles nichts:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz, eine lärmende Zimbel. Und wenn ich die Gabe prophetischer Rede habe und alle Geheimnisse kenne und alle Erkenntnis besitze und wenn ich allen Glauben habe, Berge zu versetzen, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts. Und wenn ich all meine Habe verschenke und meinen Leib dahingebe, dass ich verbrannt werde, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts. 1Kor 13, 1-3
Wenn ich neben diese Liste, die nur eine winzige Auswahl darstellt, die paar Stellen betrachte, die sich mit dem gleichgeschlechtlichen Geschlechtsakt befassen, dann sagt mir das schon mal ganz klar, welches Thema für die Bibel wichtiger ist. Es ist für mich offenkundig, dass die Liebe ein sehr zentrales Thema der Bibel ist, und dass dies bei allem, was aus der Perspektive des christlichen, auf die Bibel gründenden, Glaubens heraus gesagt und getan wird, bedacht werden muss.
Der eigene Mangel an Liebe
Wenn ich in meinen theologischen Argumenten die Liebe als Grundlage nehme, sage ich damit nicht, dass ich selbst darin so gut wäre. Wenn ich in der Verurteilung der Homosexualität durch andere Christinnen eine Lieblosigkeit sehe, die ich als solche kritisiere, dann bin ich mir bewusst, dass möglicherweise allein schon diese Kritik an meinen Glaubensgeschwistern einem Mangel an Liebe bei mir selbst entsprungen sein könnte. In Sachen Liebe bin ich selbst ein Lernender. In Kol 3, 16 (und ähnlich in diversen anderen Briefen im NT) heisst es, wir Christen sollen uns in aller Weisheit ermahnen. Auf solche Weisung berufen sich viele, wenn sie Homosexuellen sagen, dass sie in Sünde leben würden. Man müsse doch seine Brüder und Schwestern ermahnen um sie vor Sündenstrafe zu bewahren! Nun, ich ermahne meine Mitlernenden und mich selbst, die Sünde der Lieblosigkeit zu überwinden.
Was die Liebe in der Bibel bedeutet
Mit ganz wenigen Ausnahmen ist im Neuen Testament mit Liebe die Agape gemeint, die Caritas, die Nächstenliebe, die Fürsorge für den Mitmenschen, bis hin zur Selbstaufopferung. Im Matthäusevangelium schliesst die Liebe eine ziemlich starke Kritik am Reichtum ein. Wer selber nichts hat, und dann auch noch dem Mitmenschen mehr gibt, als man selber behält, der erfüllt das Gebot der Liebe. Der lebt wirklich in der Nachfolge Jesu Christi. Nur wer auf den irdischen Besitz verzichtet und alles aufgibt und den Armen verschenkt, der sammelt sich einen Schatz im Himmel. So radikal interpretiert Mt die Botschaft Jesu. Und das ist eine sehr grosse Herausforderung. Es ist unbequem. Mir ist es viel unbequemer als die paar ablehnenden Stellen zur Homosexualität. Denn diese radikale Forderung der Selbstverleugnung und unbedingten und vollständigen Hinwendung zum Mitmenschen scheint mir ziemlich zentral. Mein Leben aber, und das Leben von fast allen Mitgliedern meiner Gemeinde, ist weit von diesem Bild entfernt. Die paar hundert Franken, die ich an die Mission 21 (oder an die Kampagne «Ja zum Schutz vor Hass» zur Abstimmung am 9. Februar) spende, wiegen niemals die krasse Differenz zur biblischen Forderung der Armut auf. In Bezug auf dieses Gebot gebe ich zu, dass ich in meinem Leben und in meinen Predigten das Evangelium weichspüle.
Es dreht sich in der Bibel, in konzentrierter Form im NT, alles um die Agape-Liebe. Paulus schreibt in seinem bekannten Kapitel im ersten Korintherbrief über die Liebe. Er schreibt, dass ohne die Liebe alles andere nichts ist. Das Kapitel wird so oft zitiert und rezitiert und in fast kitschige Zusammenhänge gebracht, dass die Sprengkraft, die diese Worte haben, vielleicht etwas abgeschliffen ist. Aber wenn wir uns den Text eben doch wieder mal im Zusammenhang ansehen, erkennen wir: Paulus schreibt den schwärmerischen, chaotischen und streitsüchtigen korinthischen Christinnen und Christen, dass sie alles rauchen können, worauf sie so stolz sind, dass ihre ganze Weisheit und Zungenrede und Superfrömmigkeit etc. nichts ist. Nur eines zählt: die Liebe. Und in dieser Liebe wird alles Rechthaben und alles Wissen oder Nichtwissen und alle moralische Überlegenheit unwichtig. Denn die Liebe eifert nicht, sie sucht nicht das ihre, sie rechnet das Böse nicht an, sie trägt alles, sie erduldet alles, und so weiter.
Der Konfliktfall
In der Bibel gibt es Stellen, die sind schwer mit dem Gebot der Liebe in Einklang zu bringen. Etwa, dass man seine Kinder mit dem Stock erziehen solle (Spr 23, 13f; 13, 24), dass die Frauen schweigen und Kinder kriegen sollen, um für die Schuld am Sündenfall Abbitte zu leisten (1Tim 2, 11-15), oder eben die Verurteilung gleichgeschlechtlich liebender Menschen (Röm 1, 26f). Wer solche Stellen dem exakten Wortsinn gemäss befolgen will, wird zwangsläufig anderen Menschen Schmerzen zufügen oder sie für das, was sie sind, herabsetzen. Ich sehe in solchen Handlungen eine Verletzung des Liebesgebotes. Ich stehe also vor der Frage: Welche Worte der Bibel gewichte ich höher? Ich kann nicht gleichzeitig das Liebesgebot treu befolgen und die besagten drei Stellen wörtlich in mein handelndes Leben übernehmen. Welches Gebot werde ich also verletzen?
Mache ich es mir wirklich zu leicht, wenn ich so überlege? Ist es billige Rosinenpickerei, die ich betreibe, wenn ich auf die Herabsetzung der Frauen, die Verurteilung der LGBTQ-Menschen und die Züchtigung der Kinder verzichte, weil mich die Liebe etwas anderes gelehrt hat, nämlich dass alle Menschen von Gott gleich geliebt und darum völlig gleichwertig sind, und dass sich Liebe auch wie Liebe anfühlt und nicht wie das Gegenteil?
Lieber Leserin, lieber Leser, urteilen Sie selbst. Ich weiss, wo die Schwächen meiner Argumentation liegt. Nicht bei der Entscheidung im Zweifel die Liebe zu wählen. Sondern wenn schon in meiner eigenen Inkonsequenz bei eben dieser Liebe. Da bleibt am Ende eben noch das Vertrauen auf Christus, die Hoffnung auf seine Barmherzigkeit und die Gewissheit, dass ER mich liebt. Darauf kommt es an. Am Ende nur darauf.
Eindrücklich,…danke fürs teilen.