Ich glaube, hilf meinem Unglauben! (Mk 9, 24)

Meine Predigt zum Jahreswechsel über die Jahreslosung 2020, mit Rückbesinnung auf die Jahresolung 2019: “Suche Frieden und jage ihm nach!” (Ps 34, 15)

Liebe Leserin, lieber Leser

“Ich glaube, hilf meinem Unglauben!” Dieser Verzweifelte Ruf eines Vaters. Dieses seltsame, in sich widersprüchliche Gebet. Denn was ist jetzt wahr? Der Glaube oder der Unglaube? Wie kann beides zusammen in einem Satz gesagt werden?

Die Worte stehen im Zusammenhang einer Geschichte (Mk 9, 14-29; zum Lesen klicken). Darin wird erzählt, wie Jesus einen Jungen heilt, der von einem ziemlich bösen Geist besessen ist. Bei den Symptomen, die da beschrieben werden, würden wir heute wohl eine schwere Form der Epilepsie diagnostizieren. Wir würden das Kind in ein Krankenhaus bringen. Spezialisierte Ärztinnen würden es mit Medikamenten einstellen. Man würde seine Lebensumgebung so sicher wie möglich gestalten und das Umfeld schulen, damit das Kind trotz der Krankheit so gut wie möglich leben kann. Vielleicht würden auch Leute beten für das Kind und die Familie. Und die, die beten, sind auch sonst da, wenn man sie mal braucht, zur Ermutigung oder zur Entlastung oder einfach nur für die Gewissheit, nicht allein zu sein.

Nur eines wird man nicht können: Die beste medizinische Versorgung und alle Gebete zusammen werden das Kind nicht von der schweren Krankheit heilen können.

Glauben und Wunder

Jesus hat den Jungen geheilt.
Ob das wirklich so passiert sein kann? Es klingt wie ein Wunder, was Jesus da vollbracht hat. Und Wunder sehe ich eher skeptisch. Möglich, dass Jesus solche Wunder bewirkt hat. Mein Glaube, mein Vertrauen auf Jesus, gründet aber nicht auf diesen Wundern. Ich glaube ihm nicht deshalb, weil er magische Tricks kann, ich glaube ihm nicht deshalb, weil er einen epileptischen Jungen gesund gemacht hat. Ich glaube ihm, weil er mich mit seiner Liebe berührt hat. Ich vertraue ihm, dass er immer bei mir ist, egal was in meinem Leben geschieht, egal wie verzweifelt eine Situation werden kann. Weil er da ist, auch wenn das Wunder nicht geschieht. Denn gerade da zeigt sich die Liebe.

Ich höre schon die Einwände: Wie kannst du am Wunder zweifeln – ja solchen Zweifel auch noch predigen? Es steht in der Bibel, also ist es doch wahr!

Ja, es steht in der Bibel. Und ja, die Bibel ist die Heilige Schrift, zu der auch ich mich bekenne. Dennoch ist nicht einfach alles in einem faktisch- historischen Sinn wahr, was in der Bibel steht, und schon gar nicht einfach nur deshalb, weil es in der Bibel steht. Die Wahrheit ist mehr, als ein paar Buchstaben in einem alten Buch.

Glaubende und Glaubende

Seit ich mich mit der Bibel befasse, und das ist seit ich lesen kann, nehme ich durch die Christenheit hindurch eine Trennlinie wahr. Es gibt die einen, für die ist die Bibel das vollkommen wahre, irrtumsfreie Wort Gottes und höchste Autorität. Und es gibt die, die wie ich, Aussagen der Bibel an der Wirklichkeit der Erfahrung prüfen, im Theologiestudium dann auch noch vertieft mit den Methoden der Geschichtswissenschaft. Für mich ist die Bibel nicht ohne weiteres selbst das Wort Gottes. Sie ein Zeugnis dieses Wortes. Ein Zeugnis des Ringens der Menschen mit Gott und seinem Wort. Ein Zeugnis der immerwährenden Suche nach der Wahrheit Gottes. Sie ist Quelle, um auch heute das Wort Gottes hören zu können, zwischen den Zeilen der Biblischen Texte, durch sie hindurch, angeregt durch sie, aber niemals allein in den Buchstaben der Bibel.

In meinen ersten zwanzig Jahren im Pfarramt habe ich es selten erlebt, dass in der Kirche ernsthaft über diese sehr unterschiedlichen Zugänge zur Bibel diskutiert wurde. Man wusste, dass es die Unterschiede gab. Man spottete vielleicht mal über die Naivität der Frommen, oder schimpfte über die ungläubigen Pfarrer. Ansonsten liess man die Sache ruhen und wahrte eine Art Frieden.

Das Erwachen des Spaltpilz-Dämons

Bis im Sommer und vor allem im Herbst 2019. Da erwachte ein Dämon. Erst noch etwas schüchtern und leise, aber zunehmend grösser und lauter machte er sich bemerkbar. Es entwickelte sich ein offener Streit in den Reformierten Kirchen der Schweiz. Die Gläubigen, allen voran die Pfarrerinnen und Pfarrer der verschiedenen Lager, krochen gleichsam aus ihren Gräben und stellten sich auf dem offenen Feld einander gegenüber.

Der Auslöser für den auf einmal so offen geführten Streit war das Thema „Ehe für alle“, insbesondere die Frage, ob die Kirche ein Paar von zwei Frauen oder zwei Männern trauen solle oder nicht. Es kam dann schnell die Frage, ob eine solche Beziehung überhaupt im Sinne des Schöpfungswillens Gottes sein könne, ob Homosexualität nicht vielmehr klar eine Sünde wäre, weil das ja so in der Bibel stünde. Und von da kam dann bald die Frage nach der Autorität und Verbindlichkeit der Bibel und nach deren Wahrheitsgehalt.

Einen ersten Höhepunkt des Streits gab es Ende Oktober und Anfang November, als die Abgeordnetenversammlung des SEK, das Parlament der Schweizer Reformierten, über ihre Haltung zur zivilen Ehe und zur kirchlichen Trauung gleichgeschlechtlicher Paare abstimmte. Zwei konträre Papiere aus der Pfarrschaft machten die Runde. Eines gegen die Ehe für alle, und eines dafür. Das erste wurde von rund 200 Pfarrerinnen und Pfarrern unterschrieben, das zweite von etwa 450. Der Ton beider Papiere war kämpferisch und ziemlich unversöhnlich. Von beiden Seiten wurde die jeweils andere Seite mit schweren Vorwürfen eingedeckt. Die einen sprachen den anderen den wahren Glauben ab, die anderen konterten, die einen würden die Liebe verraten. Ein hässlicher Graben tat sich auf, oder wurde auf einmal sichtbar. Und auf den ersten Blick zumindest schien keine Brücke in Sicht.

Und an dieser Stelle stehen wir heute. Der Streit bringt nicht täglich Schlagzeilen, aber der Dämon wirkt in den Schaltstellen der Kirchen und in den Gremien und Teams und Kapiteln. Er packt die Kirche, schüttelt sie, lässt sie erstarren, wirft sie ins Feuer oder in den Abgrund, bringt ihre Vertreterinnen zum Schäumen, oder treibt hässliche Blüten in den Kommentarspalten der verschiedenen sozialen und asozialen Medien. Der Dämon arbeitet daran, dass die Kirche sich spaltet. Dass die Lager sich trennen und je eigene Wege gehen, die einen ohne kirchliche Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, die anderen faktisch auch: denn das wirklich Verrückte ist doch dies: Es gibt kaum gleichgeschlechtliche Paare, die überhaupt noch einen Segen von der Kirche wünschen oder erwarten. Wir haben diese Menschen mit ihrer Regenbogenliebe längst verloren.

Die Suche nach Frieden

Die Jahreslosung des zu Ende gehenden Jahres lautete: Suche Frieden und jage ihm nach! Der Dämon, der die Kirche spalten will, hat erfolgreich die Erinnerung an diese Losung ausgelöscht. Nur schon darum bin ich für eine Verlängerung. Damit unser Denken und Handeln im kommenden Jahr hoffentlich mehr auf den Frieden bedacht sein wird.

Ich will mein Denken und Reden und Handeln darauf ausrichten, dass der Spaltpilz-Dämon seinen Willen nicht kriegt. Ich will einen Frieden suchen, der diesen Namen verdient. Ich will nicht dahin zurück, wo wir still in unseren je eigenen Lagern verharrten und einander in Ruhe liessen. Ich will ein ehrliches Ringen miteinander, einen Streit, der nicht auf Rechthaben und Niederschreien des anderen aus ist, sondern auf Zuhören, Verstehen und Lernen.

Ich glaube daran, dass das der richtige Weg ist. Ich glaube daran, dass die Liebe und die Vergebung die Kraft haben, ein solches Miteinander trotz der Unterschiede zu finden. Ich glaube daran, dass Christus selbst diesen Weg geht und uns darin vorausgeht. Das glaube ich.

Ob mein Glaube auch genügt? Der Spaltpilz-Dämon ist stark. Er hat mächtige Verbündete: Die menschlichen Leidenschaften und die menschliche Angst. Ich lasse mich zum Beispiel schnell zu Wut reizen, wenn ich lieblose und verletzende Worte und Denkweisen wittere. Dann schalte ich auf Kampfmodus und will dem anderen nur noch sein Unrecht um die Ohren hauen, und schon stehen wir einander gegenüber und blockieren uns gegenseitig.

Viele reagieren bei Glaubensfragen besonders empfindlich, denn es würde ja viel von unserer Identität in sich zusammenfallen, wenn sich das, woran wir glauben, als unwahr herausstellen würde. Wenn also jemand ein Leben lang gehört hat, oder gar selber gepredigt hat, dass Homosexualität eine Sünde sei, dann ist es ein grosser Schritt, eine solche Überzeugung grundlegend zu ändern. Man müsste zugeben, dass man ein Leben lang einem Irrtum aufgesessen ist. Das kratzt gehörig an der Eitelkeit. Oder man müsste annehmen, dass Gott seine Meinung geändert hätte. Das lässt sich aber nur sehr schwer mit irgendetwas verbinden, das wir sonst so von Gott denken.

(Dass Gott seine Meinung ändern kann, davon gibt es aber in der Bibel einige Beispiele. Gedacht sei an die Sintflutgeschichte, wo Gott entschied, die ganze Schöpfung wieder zu vernichten. Oder an die Jona-Geschichte, wo Gott Erbarmen zeigte und Ninive nicht vernichtete.)

Es braucht also einiges, damit der Spaltpilz-Geist ausgetrieben werden und der Friede kommen kann. Allein kann ich das nicht machen. Es braucht die Bereitschaft von allen, die Frontstellung aufzugeben und gemeinsam in eine Vorwärtsrichtung zu blicken.

Ich glaube daran, dass es richtig ist, dieses Ziel zu verfolgen. Ich will daran glauben, dass Liebe und Vergebung stärker sind als der Spaltpilz-Geist. Manchmal zweifle ich doch daran, ob es gelingen kann. Es kann an so vielem scheitern!

Jesus sagte über den stummen Geist des Jungen: „Diese Art lässt sich nicht anders austreiben als durch Gebet.“

Ich denke, beten allein wird sicher nicht genügen, den Frieden zu bringen. Es geht nicht ohne viel Anstrengung von vielen. Aber es geht sicher auch nicht ohne beten. Und sei es nur das Gebet um neuen Glauben, dass der Friede möglich ist.

Ich glaube, hilf meinem Unglauben!

… und hätte die Liebe nicht…

In den letzten Wochen wurde ich mit einigen Einwänden zu meiner Argumentation in den bisherigen hier veröffentlichten Gedanken konfrontiert. In den folgenden Tagen und Wochen werde ich mich nach und nach mit den einzelnen Einwänden und Gegenargumenten auseinandersetzen.

  1. Die Liebe als hermeneutischer Schlüssel – als «Brille», durch die ich die Bibel lese
  2. Die Frage der «Autorität» der Heiligen Schrift
  3. Die Sache mit der Schöpfungsordnung
  4. Und schliesslich der Vollständigkeit halber: Mein Kommentar zu den drei Bibelstellen, die immer wieder im Zusammenhang mit Homosexualität zitiert werden.

Heute also erstens: Die Liebe als hermeneutischer Schlüssel

Die Einwände und Gegenargumente, die ich oft zu hören und zu lesen kriege, lauten ungefähr so:

  • Du machst es dir zu einfach. Mit der Liebe bügelst du über alles Unangenehme und Anspruchsvolle in der Bibel hinweg.
  • Du wählst nur, was dir aus der Bibel behagt, verfälschst mit deinem Rosinenpicken den vollen Umfang des Wortes Gottes.
  • Du predigst ein Weichspüler-Evangelium.
  • Du kannst nicht mit dem Argument der Liebe etwas rechtfertigen, was der Schrift klar widerspricht.

Ich werde im Folgenden nicht die Punkte einzeln widerlegen. Aber am Ende meines Textes sollte zu jedem dieser Einwände (und noch einigen mehr) klar sein, wie ich dazu stehe.

Zuerst muss eines klar sein: Ich stelle die Liebe über alles, weil mir das die Bibel so sagt. Ich frage mich, wie man als Christenmensch, der sich ernsthaft und redlich und im Bestreben, Gottes Wort zu hören und zu verstehen mit der Bibel auseinandersetzt, nicht darauf kommt, die Liebe über alles zu stellen! Wenn ich eine Liste der wichtigsten Bibelstellen zum Thema Liebe aufstellen müsste, ich wüsste nicht wo anfangen, und erst recht nicht, wo aufhören. Die nachstehende Aufzählung ist also nicht vollständig, und die möglicherweise in der Reihenfolge wahrgenommene Gewichtung erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Liebe in der Bibel

1. Jesus nenn die Liebe das grösste Gebot:

Er sagte zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das höchste und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Mt 22, 37-40 (und Parallelstellen)

2. Dieses doppelte Liebesgebot hat schon Mose dem Volk vermittelt. Die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst wird in Lev 19, 18 geboten, die Liebe zu Gott ist zum eigentlichen Bekenntnis Israels geworden:

Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Dtn 6, 4-5

3. Jesus nimmt Liebestaten an unseren Mitmenschen persönlich (und auch den Mangel an Liebe):

Und der König wird ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Mt 25, 40.45

4. Gott ist Liebe:

Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Mt 25, 40.45

5. Aus Liebe sendet Gott seinen Sohn:

Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er den einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Joh 3, 16

6. Liebe ist das Erkennungsmerkmal der Christen für die Welt:

Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt. Joh 13, 34-35

7. Ohne die Liebe ist alles nichts:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz, eine lärmende Zimbel. Und wenn ich die Gabe prophetischer Rede habe und alle Geheimnisse kenne und alle Erkenntnis besitze und wenn ich allen Glauben habe, Berge zu versetzen, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts. Und wenn ich all meine Habe verschenke und meinen Leib dahingebe, dass ich verbrannt werde, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts. 1Kor 13, 1-3

Wenn ich neben diese Liste, die nur eine winzige Auswahl darstellt, die paar Stellen betrachte, die sich mit dem gleichgeschlechtlichen Geschlechtsakt befassen, dann sagt mir das schon mal ganz klar, welches Thema für die Bibel wichtiger ist. Es ist für mich offenkundig, dass die Liebe ein sehr zentrales Thema der Bibel ist, und dass dies bei allem, was aus der Perspektive des christlichen, auf die Bibel gründenden, Glaubens heraus gesagt und getan wird, bedacht werden muss.

Der eigene Mangel an Liebe

Wenn ich in meinen theologischen Argumenten die Liebe als Grundlage nehme, sage ich damit nicht, dass ich selbst darin so gut wäre. Wenn ich in der Verurteilung der Homosexualität durch andere Christinnen eine Lieblosigkeit sehe, die ich als solche kritisiere, dann bin ich mir bewusst, dass möglicherweise allein schon diese Kritik an meinen Glaubensgeschwistern einem Mangel an Liebe bei mir selbst entsprungen sein könnte. In Sachen Liebe bin ich selbst ein Lernender. In Kol 3, 16 (und ähnlich in diversen anderen Briefen im NT) heisst es, wir Christen sollen uns in aller Weisheit ermahnen. Auf solche Weisung berufen sich viele, wenn sie Homosexuellen sagen, dass sie in Sünde leben würden. Man müsse doch seine Brüder und Schwestern ermahnen um sie vor Sündenstrafe zu bewahren! Nun, ich ermahne meine Mitlernenden und mich selbst, die Sünde der Lieblosigkeit zu überwinden.

Was die Liebe in der Bibel bedeutet

Mit ganz wenigen Ausnahmen ist im Neuen Testament mit Liebe die Agape gemeint, die Caritas, die Nächstenliebe, die Fürsorge für den Mitmenschen, bis hin zur Selbstaufopferung. Im Matthäusevangelium schliesst die Liebe eine ziemlich starke Kritik am Reichtum ein. Wer selber nichts hat, und dann auch noch dem Mitmenschen mehr gibt, als man selber behält, der erfüllt das Gebot der Liebe. Der lebt wirklich in der Nachfolge Jesu Christi. Nur wer auf den irdischen Besitz verzichtet und alles aufgibt und den Armen verschenkt, der sammelt sich einen Schatz im Himmel. So radikal interpretiert Mt die Botschaft Jesu. Und das ist eine sehr grosse Herausforderung. Es ist unbequem. Mir ist es viel unbequemer als die paar ablehnenden Stellen zur Homosexualität. Denn diese radikale Forderung der Selbstverleugnung und unbedingten und vollständigen Hinwendung zum Mitmenschen scheint mir ziemlich zentral. Mein Leben aber, und das Leben von fast allen Mitgliedern meiner Gemeinde, ist weit von diesem Bild entfernt. Die paar hundert Franken, die ich an die Mission 21 (oder an die Kampagne «Ja zum Schutz vor Hass» zur Abstimmung am 9. Februar) spende, wiegen niemals die krasse Differenz zur biblischen Forderung der Armut auf. In Bezug auf dieses Gebot gebe ich zu, dass ich in meinem Leben und in meinen Predigten das Evangelium weichspüle.

Es dreht sich in der Bibel, in konzentrierter Form im NT, alles um die Agape-Liebe. Paulus schreibt in seinem bekannten Kapitel im ersten Korintherbrief über die Liebe. Er schreibt, dass ohne die Liebe alles andere nichts ist. Das Kapitel wird so oft zitiert und rezitiert und in fast kitschige Zusammenhänge gebracht, dass die Sprengkraft, die diese Worte haben, vielleicht etwas abgeschliffen ist. Aber wenn wir uns den Text eben doch wieder mal im Zusammenhang ansehen, erkennen wir: Paulus schreibt den schwärmerischen, chaotischen und streitsüchtigen korinthischen Christinnen und Christen, dass sie alles rauchen können, worauf sie so stolz sind, dass ihre ganze Weisheit und Zungenrede und Superfrömmigkeit etc. nichts ist. Nur eines zählt: die Liebe. Und in dieser Liebe wird alles Rechthaben und alles Wissen oder Nichtwissen und alle moralische Überlegenheit unwichtig. Denn die Liebe eifert nicht, sie sucht nicht das ihre, sie rechnet das Böse nicht an, sie trägt alles, sie erduldet alles, und so weiter.

Der Konfliktfall

In der Bibel gibt es Stellen, die sind schwer mit dem Gebot der Liebe in Einklang zu bringen. Etwa, dass man seine Kinder mit dem Stock erziehen solle (Spr 23, 13f; 13, 24), dass die Frauen schweigen und Kinder kriegen sollen, um für die Schuld am Sündenfall Abbitte zu leisten (1Tim 2, 11-15), oder eben die Verurteilung gleichgeschlechtlich liebender Menschen (Röm 1, 26f). Wer solche Stellen dem exakten Wortsinn gemäss befolgen will, wird zwangsläufig anderen Menschen Schmerzen zufügen oder sie für das, was sie sind, herabsetzen. Ich sehe in solchen Handlungen eine Verletzung des Liebesgebotes. Ich stehe also vor der Frage: Welche Worte der Bibel gewichte ich höher? Ich kann nicht gleichzeitig das Liebesgebot treu befolgen und die besagten drei Stellen wörtlich in mein handelndes Leben übernehmen. Welches Gebot werde ich also verletzen?

Mache ich es mir wirklich zu leicht, wenn ich so überlege? Ist es billige Rosinenpickerei, die ich betreibe, wenn ich auf die Herabsetzung der Frauen, die Verurteilung der LGBTQ-Menschen und die Züchtigung der Kinder verzichte, weil mich die Liebe etwas anderes gelehrt hat, nämlich dass alle Menschen von Gott gleich geliebt und darum völlig gleichwertig sind, und dass sich Liebe auch wie Liebe anfühlt und nicht wie das Gegenteil?

Lieber Leserin, lieber Leser, urteilen Sie selbst. Ich weiss, wo die Schwächen meiner Argumentation liegt. Nicht bei der Entscheidung im Zweifel die Liebe zu wählen. Sondern wenn schon in meiner eigenen Inkonsequenz bei eben dieser Liebe. Da bleibt am Ende eben noch das Vertrauen auf Christus, die Hoffnung auf seine Barmherzigkeit und die Gewissheit, dass ER mich liebt. Darauf kommt es an. Am Ende nur darauf.