Offener Brief an die Autoren der Erklärung “Gemeinsam für das Evangelium”

Die Quelle, auf die sich dieser Text bezieht, findet sich unter folgendem Link:
https://dasevangelium.net/ Dort sind auch die sechs Autoren aufgeführt, die ich hier direkt anspreche.

Im Oktober 2022

Sehr geehrte Herren

Vor wenigen Tagen wurde ich durch einen Artikel auf IDEA.de auf Ihre Initiative „Gemeinsam für das Evangelium“ und Ihre entsprechende Erklärung aufmerksam. Ich fühle mich von Ihrer Erklärung angesprochen und angegriffen. Ich sehe mich zu einer Reaktion genötigt. Meine Replik stelle ich Ihnen über Ihre Plattform „Gemeinsam für das Evangelium“ zu, und ich mache meinen Text auf zweifelsfreiheit.net, Facebook und evtl. YouTube öffentlich zugänglich.

Ich bin ein Christenmensch, der ein Theologe und Pfarrer ist, in erster Linie aber ein Mensch unter Menschen. Ich bin getauft, weiss mich von Gott bedingungslos angenommen und heilsam berührt von seiner Liebe. Ich sehe mich herausgefordert durch Christi Ruf in die Nachfolge, der sich gleichermassen an den Einzelnen und an die Gemeinde richtet. Ich bin inspiriert durch das Vorbild Jesus Christus und den Geist Gottes. Ich ringe um das rechte Verstehen des überlieferten Zeugnisses, nämlich der Bibel, die von der Gemeinde als Heilige Schrift erkannt und weitergegeben wurde. Ich suche als Mensch unter Menschen, als Christ in der Gemeinschaft des Leibes Christi, nach dem Weg durch den Irrgarten, als der sich das Leben oft zeigt, immer wieder Entscheidungen treffend, irrend, fallend, wieder aufstehend und weitersuchend, fragend, prüfend, liebend, zweifelnd, hoffend, manchmal vertrauend, immer gehalten von der Hand Gottes, der seine Schöpfung und alle seine Geschöpfe kennt und liebt und heimführt.

Man könnte mich fragen, warum ich mir die Zeit nehme und die Mühe mache, mich mit Ihrer Erklärung so eingehend auseinanderzusetzen. Warum nicht einfach ignorieren und fröhlich weiterleben, weiterglauben, weiterfeiern, denn Gott ist barmherzig, mit mir wie mit jenen, und das genügt doch. Viele tun das so und sind zufrieden. Ich kann das nicht. Ich kann nicht zufrieden sein, wenn Geschwister im Glauben sich anmassen, besser zu wissen, was Gott denkt und sagt und will, als andere, und ein entsprechendes Urteil über jene anderen aussprechen. Ja, ich fühle mich – wie eingangs geschrieben – angesprochen von Ihrer Erklärung, ich fühle mich angegriffen, ich kann dazu nicht schweigen, ich muss widersprechen. Weil mir die Sache so wichtig ist, nämlich das Evangelium, um das es in der Erklärung geht und das auch mein Grund des Glaubens und der Hoffnung ist. Ich teile mit Ihnen, den Autoren der Erklärung, die Überzeugung, dass die christliche Gemeinde auf der Basis des Evangeliums lebt und nur leben kann, wenn sie Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferweckten, als Anfang, Mitte und Ende erkennt und bekennt und sich an Ihm orientiert. Ohne Christus als Mitte, kann eine Gemeinschaft nicht Gemeinde Christi sein. Ich bin ausserdem der Überzeugung, dass kein Mensch sich selbst oder einen anderen Menschen zum Glied am Leib Christi machen kann (in diesem Punkt darf man mir gar eine gewisse Nähe zum Calvinismus attestieren). Es ist Christus allein, der seine Gemeinde erwählt.

Nun höre ich Ihren eindringlichen „Weckruf“, der eine im Evangelium begründete geistliche Erneuerung anmahnt. Ich höre, dass es Ihnen offenbar sehr ernst ist, dass Sie in Sorge sind. Es scheint in jüngerer Zeit etwas vorgefallen zu sein, das Sie derart beunruhigt hat, dass Sie sich zu Ihrer Aktion genötigt sahen. Was konkret dieses Ereignis oder diese Entwicklung ist, wird aus Ihrem Text nicht klar. Wer konkret angesprochen wird, bleibt ebenfalls unausgesprochen. Nur zwischen den Zeilen kann man das eine oder andere herauslesen, oder man kann Ihre Namen googlen und nachlesen, was Sie andernorts geschrieben und gesprochen haben, und daraus Rückschlüsse ziehen – das alles aber bleibt in einem Stand der Spekulation. Ich stütze mich nicht auf solche Spekulationen. Ich beziehe mich im Folgenden strikt auf den Text Ihrer Erklärung.

Sie schreiben:

Wir verfolgen mit dieser Erklärung keineswegs das Ziel, christliche Gemeinde zu spalten oder neue Bewegungen und Organisationen zu gründen.

Ich bin bereit zu glauben, dass Sie nicht spalten wollen. Aber die Wirkung Ihrer Erklärung ist eine ab- und ausgrenzende. Der Ton und die Struktur Ihres Textes zielen darauf ab, Grenzlinien aufleuchten zu lassen. Sie formulieren klar und deutlich, was Sie glauben. Sie erheben den Anspruch, dass das, was sie hier als Glaubenssätze formulieren, wahr sei, unhinterfragbar und unverzichtbar für den christlichen Glauben und die Einheit der Christen. Sie formulieren nicht nur positiv, was Sie als die Wahrheit ansehen, Sie formulieren auch, was für Meinungen und Überzeugungen Sie ablehnen und verwerfen, im Stile der „Anathema“ in den altkirchlichen Konzilsbeschlüssen. Ich halte es für zweifelhaft, dass diese Form zu einer Verständigung unter den verschiedenen christlichen Strömungen und Bewegungen beitragen kann. Der vorliegende Text ist apodiktisch, es gibt nur ein „Vogel friss oder stirb“. Es wird eine Linie gezogen, eine scharfe Grenze, ein hartes „Wahr“ gegen „Falsch“, ohne Möglichkeit für Grautöne oder gar Farben. Es gibt keine Offenheit für Vergebung und Versöhnung. Ich sehe keinen Anhaltspunkt, dass Sie Andersdenkende ernstnehmen, zu verstehen versuchen oder ihnen überhaupt nur mal zuhören würden. Sie wissen, was die Wahrheit ist. Sie haben die Antwort und lassen keine Fragen zu.

Ausser der Struktur gibt es einzelne Aussagen im Text, die diese Ausgrenzungstendenz noch verstärken. Ich greife zwei Sätze aus dem Einleitungsteil heraus. Der erste Satz lautet:

Die folgende Erklärung ist eine Antwort auf die fortschreitende Aushöhlung des Evangeliums, die wir inzwischen selbst innerhalb der evangelikalen Bewegung wahrnehmen.

Ist das vielleicht eine Antwort auf die Frage, an wen Sie sich mit Ihrer Erklärung richten? Sehen Sie hier eine vorwiegend innerevangelikale Angelegenheit? Und wenn dem so sei: was ist dann mit dem ganzen grossen Rest des Leibes Christi? Haben Sie den eh schon längst aufgegeben, sehen Sie die nicht evangelikalen Geschwister im Herrn gar nicht mehr als solche an? Mir bedeutet es alles, glauben zu dürfen, dass ich zu Jesus Christus gehöre. Es würde mich tief treffen, wenn diese meine Gewissheit von Glaubensbrüdern angezweifelt und ich selbst ausgegrenzt würde.

Apropos Glaubensbrüder: Mir ist aufgefallen, dass nicht nur die sechs Autoren ausschliesslich Männer sind. Unter den 63 Erstunterzeichnenden finden sich 62 Männer und eine einzige Frau. Das sieht für mich nicht besonders einladend aus für mindestens die Hälfte der christlichen Gemeinschaft.

Der zweite Satz, auf den ich reagieren möchte, lautet:

Wir wollen zur Besinnung rufen und zur Umkehr von falschen Wegen. Wir bitten Christen, aber auch christliche Gemeinden und Organisationen, mit Hilfe der Erklärung und auf Grundlage der Bibel ihren Weg zu prüfen und, wenn nötig, zum biblischen Evangelium zurückzukehren.

Hier muss ich Sie fragen: Wer sind Sie, dass Sie sich berufen sehen, uns andere Christenmenschen zur Besinnung und Umkehr zu rufen? Der Ruf zu Umkehr und Besinnung ist grundsätzlich nie verkehrt. Ich vernehme ihn fast täglich in meiner Bibellektüre. In der Bibel sind es von Gott berufene Propheten, die zur Umkehr rufen. Oder Jesus, oder die Apostel. Was ist es, das Sie in eine entsprechende Position einsetzt? Ich bin sicher, Sie finden einige Bibelstellen, auf die Sie sich berufen können, um Ihre Legitimierung für ihre Initiative zu untermauern. Ich selbst denke etwa an Kol 3,16: „Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit…“, oder an Röm 16,17: „Ich ermahne euch aber, liebe Brüder und Schwestern: Habt ein Auge auf die, welche Anlass zu Spaltung und Ärgernis geben; sie widersprechen der Lehre, die ihr gelernt habt. Geht ihnen aus dem Weg!“. Oder ziehen Sie doch Jud 3 vor: „…darum halte ich es für notwendig, euch mit diesem Brief zu ermahnen, für den Glauben zu kämpfen, der den Heiligen ein für alle Mal anvertraut worden ist.“? Was auch immer Sie als biblische Legitimation vorbringen, kann ich genauso gut und mit exakt gleichem Recht für mich selbst beanspruchen. Am Ende bleibt nur eine Ermahnung unter Geschwistern auf Augenhöhe. Oder wie Paulus scheibt: „Ihr seid der Leib des Christus, als einzelne aber Glieder.“ (1Kor 12,27). Oder wie Jesus sagt: „…einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.“ (Mt 23,8).

Zu einer solchen geschwisterlichen Ermahnung scheint mir aber das Folgende nicht zu passen. Sie bitten Christen und christliche Gemeinden und Organisationen, „mit Hilfe der Erklärung(!)“ ihren Weg zu prüfen. Neben – nein: vor die Bibel stellen Sie Ihre Erklärung als Kriterium zur Beurteilung, ob der je eigene Weg eines Einzelnen oder eines Gemeinwesens der rechte sei.

Ich erkenne Sie als Mitbrüder im Glauben an, nicht aber als Autoritäten. Wir können gerne gemeinsam suchen und ringen um das rechte Verstehen der Heiligen Schrift (diese meine Replik sei ein Beleg, dass ich das durchaus ernstmeine), aber auf Augenhöhe, nicht mit dem autoritären Gefälle, dass Sie wissen, was niemand wissen kann, ausser Gott selbst.

Wie Sie sich wohl vorstellen können, habe ich auch zu den konkreten Inhalten Ihrer Erklärung einige Fragen. Sollte sich aufgrund meiner aktuellen Replik ein weiterführendes Gespräch entwickeln, würde ich mich freuen, auch diese weiteren Fragen in die Debatte einzubringen. Einstweilen hoffe ich, dass meine Replik Resonanz findet, sei es bei Ihnen oder bei den Mitlesenden da draussen, seien es spannungsvolle oder wohlklingende Schwingungen. Solange noch gestritten wird, besteht immerhin das Potential, dass wir gemeinsam, miteinander und voneinander lernen können.

Mit geschwisterlichen Grüssen
Matthijs van Zwieten de Blom

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