Die Frage der «Autorität» der Heiligen Schrift

Dies ist der zweite von vier Teilen zur Beantwortung von Einwänden, die ich in der Diskussion um die Ehe für alle zu meiner Position immer wieder gehört und gelesen habe. Es geht hierin um die Stellung der Bibel, wenn wir Entscheidungen treffen über die vom christlichen Glauben geprägte Lebensführung bzw. über die Wahrheit bestimmter Aussagen.

Kritikerinnen und Kritiker der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare berufen sich regelmässig auf die «Autorität» der Bibel als das einzig wahre, irrtums- und widerspruchsfreie Wort Gottes. Schon im ersten Teil, über die Priorität des Liebesgebotes, wurde deutlich, dass die These der Widerspruchsfreiheit der Bibel, zumindest was die Anwendung der einzelnen Anweisungen betrifft, nicht haltbar ist. Es gibt darüber hinaus viele Stellen, die ernsthafte Fragen bezüglich ihres historischen Wahrheitsgehalts aufwerfen. Es soll hier aber jetzt nicht um die Plausibilität der Schöpfungsberichte oder der Sintflutgeschichte gehen, sondern noch grundlegender um die Identität von Bibel und Gottes Wort einerseits, und die Autorität des Wortes Gottes andererseits.

Ist die Bibel das Wort Gottes?

Wenn wir die Bibel mit dem Wort Gottes gleichsetzen wollen, müssten wir zunächst die Frage klären, welche Version des biblischen Textes denn das Wort Gottes sein solle. Von keinem einzigen Teil der Bibel ist eine Originalhandschrift überliefert. Die verschiedenen erhaltenen Abschriften weisen zum Teil erhebliche Differenzen auf. Evangelikale Bibelausleger haben mir versichert, dass sie sich sehr wohl bewusst seien, dass es beim biblischen Urtext Varianten gäbe. Sie scheinen diesen Befund jedoch nicht als Problem anzusehen. Ich frage aber schon, wie die Behauptung der Widerspruchsfreiheit der Bibel aufrechterhalten werden kann, wenn es schon auf der reinen Textebene Widersprüche gibt. Darüber hinaus gibt es zwischen den Konfessionen Unterschiede, welche Bücher zum Kanon der Bibel gezählt werden.

Die katholische Kirche stützt sich auf die Vulgata, die altkirchliche lateinische Bibel. Sie enthält die meisten Schriften der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der heiligen Schriften des Judentums in der Antike. Die Reformatoren im 16. Jahrhundert, denen der Rückgriff auf die Originalsprache dieser Schriften wichtig war, haben nur jene Teile der jüdischen Schriften als Teil der Bibel anerkannt, die in der hebräischen Bibel enthalten waren. Die Schriften, die nur in der griechischen Version überliefert waren, nannte man seither «apokryph» (‘neben der Schrift’). In Bibelausgaben von protestantischen Herausgebern sind diese Bücher oder Buchteile nicht oder nur als Anhang enthalten.

Welche Bibel ist also nun identisch mit dem Wort Gottes? Eine redliche positive Antwort habe ich noch nie erhalten. Unredlich sind Behauptungen, wonach eine ganz bestimmte Bibelübersetzung – und nur diese – als das eine, wahre, unverfälschte etc. Wort Gottes gelten solle. Im deutschen Sprachraum wird dies hin und wieder von der Lutherübersetzung behauptet, im englischen Sprachraum erleidet die King James Version erschreckend häufig dieses Schicksal.

Sagt die Bibel selbst, sie sei das Wort Gottes?

Wer uns davon überzeugen möchte, dass die Bibel mit dem Wort Gottes identisch sei, verweist gerne auf eine Stelle im 2. Timotheusbrief (3,16). So zum Beispiel erst kürzlich (Anfang Dezember 2019) Pastor Olaf Latzel an einer Veranstaltung des Netzwerks Bibel und Bekenntnis. In den Kommentaren zu diesem Video  habe ich schon eine Diskussion zu diesem Thema geführt. Hier nochmal die wichtigsten Argumente.

Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit.
(2Tim 3,16)

Die Wendung «von Gott eingegeben» wird gerne als Beleg verstanden, dass die Bibel selbst sage, dass sie von Gott eingegeben sei. Auch hier stellt sich aber als erstes die Frage, worauf sich der Autor des zweiten Timotheusbriefes konkret bezieht. Meint er die Schriften des Alten Testaments? Davon können wir wohl ausgehen. Mit oder ohne die Teile, die wir «Apokryphen» nennen? Wahrscheinlich mit, aber das ist nicht die wichtigste Frage. Die Frage ist: Bezog sich der Autor auch auf das Neue Testament? Historisch und logisch kann man das natürlich nur verneinen. Denn das Neue Testament lag zur Zeit der Entstehung der Timotheusbriefe noch gar nicht vor. Man müsste voraussetzen, dass der Autor dieser Zeilen wusste, dass er gerade am Neuen Testament schrieb, und nicht einfach an irgendeinem Brief. Man gerät zwangsläufig in logische Verstrickungen, wenn man behauptet, 2Tim 3,16 beziehe sich auf die ganze uns vorliegende Bibel. Oder man sagt, der Heilige Geist hätte das ja so diktiert, der Autor hätte gar nicht wissen oder verstehen müssen, was er schreibt, nur dem Geist gehorchen, und schon ist alles erklärt. Tatsächlich wird mitunter genau so argumentiert. Das halte ich nicht nur für ziemlich naiv und unbefriedigend. Es schafft auch das gleiche logische Problem nochmal: man begründet die Behauptung mit der Behauptung selbst.

Bibel und Autorität

Ich ziehe aus dem bisher Beschriebenen den Schluss: Die Bibel selbst sagt nicht über sich selbst, sie wäre das Wort Gottes. So etwas steht in 2Tim 3,16 nicht und kann auch nicht ohne weiteres daraus geschlossen werden, schon gar nicht betreffend das Neue Testament. Es heisst bloss, diese Schriften wären «nützlich», und zwar zur Belehrung und Erziehung und dergleichen mehr. Und im Vers 15 steht noch, dass diese Schriften «Einsicht zu geben vermögen in das, was dir Heil verschafft, durch den Glauben an Christus Jesus». Das ist allerhand, aber es ist nie und nimmer die behauptete Autorität der Bibel. Diese wird ihr von aussen gegeben, sie erschliesst sich nicht aus ihr selbst.

Autorität und Glaube

Überhaupt ist das mit der Autorität im christlichen Glauben so eine Sache. Ich denke, wir kommen hier zur wirklich spannenden Frage: Bedeutet christlicher Glaube überhaupt, dass man sich unter eine Autorität zu fügen hat?

Glaube und irdische Herrschaft

In der Bibel gibt es natürlich Autorität, Herrschaft, und auf der anderen Seite Gehorsam, Unterwerfung oder Gottesfurcht oder wie immer man das geforderte, erwartete, vollzogene oder verweigerte menschliche Verhalten im Einzelfall nennen möchte. Es ist ziemlich problemlos möglich, Bibelstellen anzuführen, die zum Beispiel eine staatliche Ordnung stützen, das obrigkeitliche (kirchlich oder weltlich) Durchsetzen eines disziplinierten, moralisch sauberen Lebenswandels untermauern oder die Bestrafung von Sündern und Ketzern etc. rechtfertigen. Die Herrschenden haben immer gerne und oft erfolgreich die Religion, die Gottesfurcht der Menschen instrumentalisiert, um ihre Macht zu festigen. Die christliche Religion ist da keine Ausnahme. Meine Lektüre der Bibel lässt mir aber erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob sich solcher Gebrauch der Religion zur Ausübung irdischer Autorität zu Recht auf die Bibel berufen kann. Denn die grossen Linien der Bibel erzählen eine sehr herrschaftskritische Geschichte. Gott befreit sein Volk aus der Herrschaft des Pharaos in Ägypten. Zunächst gibt es grosse Vorbehalte am Königtum in Israel, und auch nach David werden die Könige kritisch daran gemessen, ob sie Gott treu waren, und nicht daran, ob sie nach irdischen Massstäben erfolgreich regierten. Jesus sagte vor Pilatus, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Und die Auferweckung Jesu von den Toten zeigt allen irdischen Machthabern, dass ihre Herrschaft nicht über den Tod hinaus reicht. Das revolutionäre Potential des Glaubens an Jesus Christus kommt zum Beispiel im Gebet Mariens, dem Magnificat, sehr schön zum Ausdruck:

Mächtige hat er vom Thron gestürzt
und Niedrige erhöht,
Hungrige hat er gesättigt mit Gutem
und Reiche leer ausgehen lassen. (Lk 1, 52-53)

Glaube und Autorität Gottes

Es ist eine grosse Versuchung zu sagen, Glauben bedeute absoluten Gehorsam gegenüber der Autorität Gottes, die völlige Unterwerfung unter seine Herrschaft. Zeigen würde sich das im strikten Einhalten seiner Gebote, im frommen Beten, im regelmässigen Besuch der Gottesdienste, im Bekämpfen der Sünde und im Bemühen Sünder zu retten. Ich schätze, ich habe soeben das Selbstverständnis vieler Christenmenschen und christlicher Gemeinden recht gut beschrieben.

Ich habe es eine Versuchung genannt, den Glauben so zu sehen. Gewiss, diesen Weg kann man sehr gut mit Bibelzitaten begründen. Aber ich sehe in der Bibel Geschichten, die sich zu diesem einfachen Gehorsam querstellen. Der Name des auserwählten Gottesvolkes, Israel, hat wenig mit Unterwerfung und Gehorsam zu tun. Er bedeutet «Gottesstreiter», und zwar in dem Sinne, dass das Volk nicht für Gott (wie die Jihadisten), sondern gewissermassen GEGEN Gott kämpft, mit ihm ringt. Jakob, der Stammvater, hat in jener denkwürdigen Nacht mit dem Unbekannten gerungen und ihn nicht gehen lassen, bis er dessen Segen erhalten hatte (Gen 32, 23-33). Die Gebote, insbesondere die 10 Gebote, sind als Anweisungen für ein Leben in der Freiheit zu verstehen. Gott erinnert das Volk daran, wer er ist: der Gott, der es aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit hat. Deshalb, weil er die Freiheit des Volkes möchte, nicht mit der Absicht zu unterwerfen, gibt er ihm die Gebote. Die Propheten mahnen das Volk und die Könige, die Treue zu diesem Gott zu wahren, indem das Recht und die Gerechtigkeit für die Armen im Land geschützt werden soll. Und Jesus hat nicht zum absoluten Gehorsam gegen Gott aufgerufen, sondern zur Liebe.

Autorität oder Liebe

Im christlichen Glauben geht es um die Liebe, und zwar um die Liebe zu Gott (als Antwort auf die vorausgehende Liebe von Gott zu uns Menschen) und um die Liebe zu den Mitmenschen. Liebe ist nicht Gehorsam und Unterwerfung unter eine Autorität. Liebe ist Zuwendung und Hingabe in voller Freiheit. Oder es ist nicht Liebe. Die Auffassung, man solle irgendetwas, und sei es die Heilige Schrift, ja sei es Gott selbst! als absolute Autorität anerkennen, wird durch das Liebesgebot, das sogar die Liebe zum Feind miteinschliesst, radikal in Frage gestellt. Gott will nicht Gehorsam, er will Liebe. Er unterwirft nicht, er befreit, und er geht das Risiko ein, dass der Mensch in seiner Freiheit die Liebe zu Gott verweigert. Seine Hoffnung ist, dass wir in voller Freiheit den Weg zu ihm und seiner Liebe finden und beschreiten.

Fazit

So wie ich die Heilige Schrift verstehe, sagt sie nicht über sich selbst, dass sie das Wort Gottes wäre, noch dass sie höchste Autorität wäre, noch dass sie irrtums- und widerspruchsfrei wäre. Solche Auffassungen bezüglich der Bibel sind allesamt von aussen an sie herangetragen. Es sind Vorentscheidungen, die getroffen worden sind, bevor das Buch überhaupt erst aufgeschlagen wurde. Es sind Behauptungen, vielleicht ein Bekenntnis, aber keine absolut und einzig wahren Fakten.

So wie ich die Heilige Schrift verstehe, führt Gott den Menschen in die Freiheit. Freiheit bedeutet Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und Handlungen. In der Freiheit, die von Gott kommt, haben wir auch die Verantwortung, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Das Kriterium dafür ist nicht der tote Buchstabe der Bibel, sondern der lebendige Geist der Liebe.

So wie ich die Heilige Schrift verstehe, bezeugt sie das Wort Gottes. Es geschieht zu Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Rahel und Lea, es geschieht zu Mose und dem Volk in der Wüste, zu den Propheten und zum Haus Davids. Es geschieht zu Maria, es wird Fleisch in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Er ist das lebendige Wort Gottes. Heute geschieht es, wenn wir Menschen zum Vertrauen auf Jesus Christus finden und Taten der Liebe tun.

So wie ich die Heilige Schrift verstehe, haben wir die Freiheit und die Verantwortung, auf angemessene, dem Liebesgebot entsprechende Weise mit unseren Mitmenschen umzugehen, auch mit denen, die vielleicht ein wenig anders lieben als wir. Wir können uns nicht hinter einer behaupteten Autorität von Buchstaben verschanzen. Wir müssen hinstehen vor diese Menschen und von Mensch zu Mensch sagen, was Sache ist. Ich sage euch: Gott liebt euch, und ich kann mir aufgrund meiner intensiven Bibellektüre und meinem bisherigen Leben im Glauben an Christus keinen liebenden Gott denken, der die Liebe von gleichgeschlechtlichen Paaren nicht segnen würde.


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