Meine Predigt zum Jahreswechsel über die Jahreslosung 2020, mit Rückbesinnung auf die Jahresolung 2019: “Suche Frieden und jage ihm nach!” (Ps 34, 15)
Liebe Leserin, lieber Leser
“Ich glaube, hilf meinem Unglauben!” Dieser Verzweifelte Ruf eines Vaters. Dieses seltsame, in sich widersprüchliche Gebet. Denn was ist jetzt wahr? Der Glaube oder der Unglaube? Wie kann beides zusammen in einem Satz gesagt werden?
Die Worte stehen im Zusammenhang einer Geschichte (Mk 9, 14-29; zum Lesen klicken). Darin wird erzählt, wie Jesus einen Jungen heilt, der von einem ziemlich bösen Geist besessen ist. Bei den Symptomen, die da beschrieben werden, würden wir heute wohl eine schwere Form der Epilepsie diagnostizieren. Wir würden das Kind in ein Krankenhaus bringen. Spezialisierte Ärztinnen würden es mit Medikamenten einstellen. Man würde seine Lebensumgebung so sicher wie möglich gestalten und das Umfeld schulen, damit das Kind trotz der Krankheit so gut wie möglich leben kann. Vielleicht würden auch Leute beten für das Kind und die Familie. Und die, die beten, sind auch sonst da, wenn man sie mal braucht, zur Ermutigung oder zur Entlastung oder einfach nur für die Gewissheit, nicht allein zu sein.
Nur eines wird man nicht können: Die beste medizinische Versorgung und
alle Gebete zusammen werden das Kind nicht von der schweren Krankheit heilen
können.
Glauben und Wunder
Jesus hat den Jungen geheilt.
Ob das wirklich so passiert sein kann? Es klingt wie ein Wunder, was Jesus da
vollbracht hat. Und Wunder sehe ich eher skeptisch. Möglich, dass Jesus solche
Wunder bewirkt hat. Mein Glaube, mein Vertrauen auf Jesus, gründet aber nicht
auf diesen Wundern. Ich glaube ihm nicht deshalb, weil er magische Tricks kann,
ich glaube ihm nicht deshalb, weil er einen epileptischen Jungen gesund gemacht
hat. Ich glaube ihm, weil er mich mit seiner Liebe berührt hat. Ich vertraue
ihm, dass er immer bei mir ist, egal was in meinem Leben geschieht, egal wie
verzweifelt eine Situation werden kann. Weil er da ist, auch wenn das Wunder
nicht geschieht. Denn gerade da zeigt sich die Liebe.
Ich höre schon die Einwände: Wie kannst du am Wunder zweifeln – ja
solchen Zweifel auch noch predigen? Es steht in der Bibel, also ist es doch
wahr!
Ja, es steht in der Bibel. Und ja, die Bibel ist die Heilige Schrift, zu
der auch ich mich bekenne. Dennoch ist nicht einfach alles in einem faktisch-
historischen Sinn wahr, was in der Bibel steht, und schon gar nicht einfach nur
deshalb, weil es in der Bibel steht. Die Wahrheit ist mehr, als ein paar
Buchstaben in einem alten Buch.
Glaubende und Glaubende
Seit ich mich mit der Bibel befasse, und das ist seit ich lesen kann, nehme ich durch die Christenheit hindurch eine Trennlinie wahr. Es gibt die einen, für die ist die Bibel das vollkommen wahre, irrtumsfreie Wort Gottes und höchste Autorität. Und es gibt die, die wie ich, Aussagen der Bibel an der Wirklichkeit der Erfahrung prüfen, im Theologiestudium dann auch noch vertieft mit den Methoden der Geschichtswissenschaft. Für mich ist die Bibel nicht ohne weiteres selbst das Wort Gottes. Sie ein Zeugnis dieses Wortes. Ein Zeugnis des Ringens der Menschen mit Gott und seinem Wort. Ein Zeugnis der immerwährenden Suche nach der Wahrheit Gottes. Sie ist Quelle, um auch heute das Wort Gottes hören zu können, zwischen den Zeilen der Biblischen Texte, durch sie hindurch, angeregt durch sie, aber niemals allein in den Buchstaben der Bibel.
In meinen ersten zwanzig Jahren im Pfarramt habe ich es selten erlebt,
dass in der Kirche ernsthaft über diese sehr unterschiedlichen Zugänge zur
Bibel diskutiert wurde. Man wusste, dass es die Unterschiede gab. Man spottete
vielleicht mal über die Naivität der Frommen, oder schimpfte über die ungläubigen
Pfarrer. Ansonsten liess man die Sache ruhen und wahrte eine Art Frieden.
Das Erwachen des Spaltpilz-Dämons
Bis im Sommer und vor allem im Herbst 2019. Da erwachte ein Dämon. Erst
noch etwas schüchtern und leise, aber zunehmend grösser und lauter machte er
sich bemerkbar. Es entwickelte sich ein offener Streit in den Reformierten
Kirchen der Schweiz. Die Gläubigen, allen voran die Pfarrerinnen und Pfarrer
der verschiedenen Lager, krochen gleichsam aus ihren Gräben und stellten sich
auf dem offenen Feld einander gegenüber.
Der Auslöser für den auf einmal so offen geführten Streit war das Thema
„Ehe für alle“, insbesondere die Frage, ob die Kirche ein Paar von zwei Frauen
oder zwei Männern trauen solle oder nicht. Es kam dann schnell die Frage, ob eine
solche Beziehung überhaupt im Sinne des Schöpfungswillens Gottes sein könne, ob
Homosexualität nicht vielmehr klar eine Sünde wäre, weil das ja so in der Bibel
stünde. Und von da kam dann bald die Frage nach der Autorität und
Verbindlichkeit der Bibel und nach deren Wahrheitsgehalt.
Einen ersten Höhepunkt des Streits gab es Ende Oktober und Anfang
November, als die Abgeordnetenversammlung des SEK, das Parlament der Schweizer
Reformierten, über ihre Haltung zur zivilen Ehe und zur kirchlichen Trauung
gleichgeschlechtlicher Paare abstimmte. Zwei konträre Papiere aus der
Pfarrschaft machten die Runde. Eines gegen die Ehe für alle, und eines dafür.
Das erste wurde von rund 200 Pfarrerinnen und Pfarrern unterschrieben, das
zweite von etwa 450. Der Ton beider Papiere war kämpferisch und ziemlich
unversöhnlich. Von beiden Seiten wurde die jeweils andere Seite mit schweren
Vorwürfen eingedeckt. Die einen sprachen den anderen den wahren Glauben ab, die
anderen konterten, die einen würden die Liebe verraten. Ein hässlicher Graben
tat sich auf, oder wurde auf einmal sichtbar. Und auf den ersten Blick
zumindest schien keine Brücke in Sicht.
Und an dieser Stelle stehen wir heute. Der Streit bringt nicht täglich
Schlagzeilen, aber der Dämon wirkt in den Schaltstellen der Kirchen und in den
Gremien und Teams und Kapiteln. Er packt die Kirche, schüttelt sie, lässt sie
erstarren, wirft sie ins Feuer oder in den Abgrund, bringt ihre Vertreterinnen
zum Schäumen, oder treibt hässliche Blüten in den Kommentarspalten der
verschiedenen sozialen und asozialen Medien. Der Dämon arbeitet daran, dass die
Kirche sich spaltet. Dass die Lager sich trennen und je eigene Wege gehen, die
einen ohne kirchliche Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, die anderen faktisch
auch: denn das wirklich Verrückte ist doch dies: Es gibt kaum
gleichgeschlechtliche Paare, die überhaupt noch einen Segen von der Kirche
wünschen oder erwarten. Wir haben diese Menschen mit ihrer Regenbogenliebe
längst verloren.
Die Suche nach Frieden
Die Jahreslosung des zu Ende gehenden Jahres lautete: Suche Frieden und
jage ihm nach! Der Dämon, der die Kirche spalten will, hat erfolgreich die
Erinnerung an diese Losung ausgelöscht. Nur schon darum bin ich für eine
Verlängerung. Damit unser Denken und Handeln im kommenden Jahr hoffentlich mehr
auf den Frieden bedacht sein wird.
Ich will mein Denken und Reden und Handeln darauf ausrichten, dass der Spaltpilz-Dämon
seinen Willen nicht kriegt. Ich will einen Frieden suchen, der diesen Namen
verdient. Ich will nicht dahin zurück, wo wir still in unseren je eigenen
Lagern verharrten und einander in Ruhe liessen. Ich will ein ehrliches Ringen
miteinander, einen Streit, der nicht auf Rechthaben und Niederschreien des
anderen aus ist, sondern auf Zuhören, Verstehen und Lernen.
Ich glaube daran, dass das der richtige Weg ist. Ich glaube daran, dass
die Liebe und die Vergebung die Kraft haben, ein solches Miteinander trotz der
Unterschiede zu finden. Ich glaube daran, dass Christus selbst diesen Weg geht
und uns darin vorausgeht. Das glaube ich.
Ob mein Glaube auch genügt? Der Spaltpilz-Dämon ist stark. Er hat
mächtige Verbündete: Die menschlichen Leidenschaften und die menschliche Angst.
Ich lasse mich zum Beispiel schnell zu Wut reizen, wenn ich lieblose und
verletzende Worte und Denkweisen wittere. Dann schalte ich auf Kampfmodus und will
dem anderen nur noch sein Unrecht um die Ohren hauen, und schon stehen wir
einander gegenüber und blockieren uns gegenseitig.
Viele reagieren bei Glaubensfragen besonders empfindlich, denn es würde
ja viel von unserer Identität in sich zusammenfallen, wenn sich das, woran wir
glauben, als unwahr herausstellen würde. Wenn also jemand ein Leben lang gehört
hat, oder gar selber gepredigt hat, dass Homosexualität eine Sünde sei, dann
ist es ein grosser Schritt, eine solche Überzeugung grundlegend zu ändern. Man
müsste zugeben, dass man ein Leben lang einem Irrtum aufgesessen ist. Das
kratzt gehörig an der Eitelkeit. Oder man müsste annehmen, dass Gott seine
Meinung geändert hätte. Das lässt sich aber nur sehr schwer mit irgendetwas
verbinden, das wir sonst so von Gott denken.
(Dass Gott seine Meinung ändern kann, davon gibt es aber in der Bibel
einige Beispiele. Gedacht sei an die Sintflutgeschichte, wo Gott entschied, die
ganze Schöpfung wieder zu vernichten. Oder an die Jona-Geschichte, wo Gott
Erbarmen zeigte und Ninive nicht vernichtete.)
Es braucht also einiges, damit der Spaltpilz-Geist ausgetrieben werden und
der Friede kommen kann. Allein kann ich das nicht machen. Es braucht die
Bereitschaft von allen, die Frontstellung aufzugeben und gemeinsam in eine
Vorwärtsrichtung zu blicken.
Ich glaube daran, dass es richtig ist, dieses Ziel zu verfolgen. Ich will
daran glauben, dass Liebe und Vergebung stärker sind als der Spaltpilz-Geist. Manchmal
zweifle ich doch daran, ob es gelingen kann. Es kann an so vielem scheitern!
Jesus sagte über den stummen Geist des Jungen: „Diese Art lässt sich
nicht anders austreiben als durch Gebet.“
Ich denke, beten allein wird sicher nicht genügen, den Frieden zu
bringen. Es geht nicht ohne viel Anstrengung von vielen. Aber es geht sicher
auch nicht ohne beten. Und sei es nur das Gebet um neuen Glauben, dass der
Friede möglich ist.
Ich glaube, hilf meinem Unglauben!