Von Hass und Meinungsfreiheit

Am 9. Februar wird über den Schutz vor Hass abgestimmt. Offiziell heisst die Vorlage «Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung». Die Gegner der Vorlage sprechen von «Zensurgesetz» und wittern eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. In diesem Blogpost lege ich dar, warum das Gegenteil wahr ist und es gerade im Interesse der Meinungsfreiheit ein Ja zum Schutz vor Hass braucht.

Freiheit, im Speziellen die Meinungsfreiheit, misst sich an der Freiheit der anderen. Anerkenne ich das Recht der anderen, sich genau so frei zu bewegen und zu äussern, der eigenen Identität und was dazu gehört Ausdruck zu verleihen, wie ich? Am 9. Februar geht es konkret um die Frage: gesteht die (abstimmende) Gesellschaft homo- und bisexuellen Menschen zu, ohne Angst und ohne sich zu verstecken, ihrer Liebe Ausdruck zu geben? An Partys zu gehen, und von Partys nach Hause zu gehen, ohne angepöbelt oder verprügelt zu werden? Sich auf offener Strasse die Hand zu halten oder sich im Tram zu küssen, ohne Furcht vor Spott und Schlägen?

Defekt im Hirn

Heute ist es so, dass man offen sagen kann, Schwule hätten einen Defekt im Hirn, und man könne sie durch Schläge heilen. Man darf das sagen und muss nichts befürchten. Genau solche Worte konnte man heute, am 7. Januar 2020, im 20Minuten lesen bzw. im Video auf 20minuten online hören, stolz und selbstbewusst ausgesprochen von einem jungen Mann, der sich noch durch andere Aussagen eindeutig als Schwulenhasser zu erkennen gibt. Ein schwules Paar aber, das zufällig Hand in Hand an diesem jungen Mann und seiner Clique vorbeikäme, müsste Glück haben, ungeschoren nach Hause zu kommen. Solange der junge Mann seine Hände in der Hoodie-Tasche behält, ist er durch die Meinungsfreiheit geschützt. Wenn andere, angestachelt durch seinen Hass, die Tat ausführen, machen sich jene anderen zwar strafbar, er selbst aber bliebe ungeschoren, denn er hat ja nur allgemein seine Meinung geäussert.

Wer die Vorlage zum Schutz vor Hass mit Verweis auf die Meinungsfreiheit bekämpft, pervertiert genau diese Meinungsfreiheit und macht sie zur Freiheit zum Hassen und Hetzen. So behält faktisch nur der Stärkere und Lautere die Freiheit, seine Ansichten dem Rest aufzudrücken. Andersdenkende und Mitmenschen, die nicht den eigenen Lebens- und Liebesweisen entsprechen, werden niedergeschrien und ihrer Freiheitsrechte beraubt.

Zensur? Nein: Freiheit!

Das Verbot der Diskriminierung und des Aufrufs zu Hass und Hetze hat nichts mit Zensur zu tun, aber alles mit der Freiheit, der Mensch zu sein, der du bist. Sei der Mensch, der du bist. Sei es aber so, dass die oder der andere nicht gehindert wird, zu sein, wer sie oder er ist. Wenn das auch deine Ansicht ist, dann stimme am 9. Februar JA zum Schutz vor Hass!

Siehe auch das Video zur Aktion Regenbogen!

Ich glaube, hilf meinem Unglauben! (Mk 9, 24)

Meine Predigt zum Jahreswechsel über die Jahreslosung 2020, mit Rückbesinnung auf die Jahresolung 2019: “Suche Frieden und jage ihm nach!” (Ps 34, 15)

Liebe Leserin, lieber Leser

“Ich glaube, hilf meinem Unglauben!” Dieser Verzweifelte Ruf eines Vaters. Dieses seltsame, in sich widersprüchliche Gebet. Denn was ist jetzt wahr? Der Glaube oder der Unglaube? Wie kann beides zusammen in einem Satz gesagt werden?

Die Worte stehen im Zusammenhang einer Geschichte (Mk 9, 14-29; zum Lesen klicken). Darin wird erzählt, wie Jesus einen Jungen heilt, der von einem ziemlich bösen Geist besessen ist. Bei den Symptomen, die da beschrieben werden, würden wir heute wohl eine schwere Form der Epilepsie diagnostizieren. Wir würden das Kind in ein Krankenhaus bringen. Spezialisierte Ärztinnen würden es mit Medikamenten einstellen. Man würde seine Lebensumgebung so sicher wie möglich gestalten und das Umfeld schulen, damit das Kind trotz der Krankheit so gut wie möglich leben kann. Vielleicht würden auch Leute beten für das Kind und die Familie. Und die, die beten, sind auch sonst da, wenn man sie mal braucht, zur Ermutigung oder zur Entlastung oder einfach nur für die Gewissheit, nicht allein zu sein.

Nur eines wird man nicht können: Die beste medizinische Versorgung und alle Gebete zusammen werden das Kind nicht von der schweren Krankheit heilen können.

Glauben und Wunder

Jesus hat den Jungen geheilt.
Ob das wirklich so passiert sein kann? Es klingt wie ein Wunder, was Jesus da vollbracht hat. Und Wunder sehe ich eher skeptisch. Möglich, dass Jesus solche Wunder bewirkt hat. Mein Glaube, mein Vertrauen auf Jesus, gründet aber nicht auf diesen Wundern. Ich glaube ihm nicht deshalb, weil er magische Tricks kann, ich glaube ihm nicht deshalb, weil er einen epileptischen Jungen gesund gemacht hat. Ich glaube ihm, weil er mich mit seiner Liebe berührt hat. Ich vertraue ihm, dass er immer bei mir ist, egal was in meinem Leben geschieht, egal wie verzweifelt eine Situation werden kann. Weil er da ist, auch wenn das Wunder nicht geschieht. Denn gerade da zeigt sich die Liebe.

Ich höre schon die Einwände: Wie kannst du am Wunder zweifeln – ja solchen Zweifel auch noch predigen? Es steht in der Bibel, also ist es doch wahr!

Ja, es steht in der Bibel. Und ja, die Bibel ist die Heilige Schrift, zu der auch ich mich bekenne. Dennoch ist nicht einfach alles in einem faktisch- historischen Sinn wahr, was in der Bibel steht, und schon gar nicht einfach nur deshalb, weil es in der Bibel steht. Die Wahrheit ist mehr, als ein paar Buchstaben in einem alten Buch.

Glaubende und Glaubende

Seit ich mich mit der Bibel befasse, und das ist seit ich lesen kann, nehme ich durch die Christenheit hindurch eine Trennlinie wahr. Es gibt die einen, für die ist die Bibel das vollkommen wahre, irrtumsfreie Wort Gottes und höchste Autorität. Und es gibt die, die wie ich, Aussagen der Bibel an der Wirklichkeit der Erfahrung prüfen, im Theologiestudium dann auch noch vertieft mit den Methoden der Geschichtswissenschaft. Für mich ist die Bibel nicht ohne weiteres selbst das Wort Gottes. Sie ein Zeugnis dieses Wortes. Ein Zeugnis des Ringens der Menschen mit Gott und seinem Wort. Ein Zeugnis der immerwährenden Suche nach der Wahrheit Gottes. Sie ist Quelle, um auch heute das Wort Gottes hören zu können, zwischen den Zeilen der Biblischen Texte, durch sie hindurch, angeregt durch sie, aber niemals allein in den Buchstaben der Bibel.

In meinen ersten zwanzig Jahren im Pfarramt habe ich es selten erlebt, dass in der Kirche ernsthaft über diese sehr unterschiedlichen Zugänge zur Bibel diskutiert wurde. Man wusste, dass es die Unterschiede gab. Man spottete vielleicht mal über die Naivität der Frommen, oder schimpfte über die ungläubigen Pfarrer. Ansonsten liess man die Sache ruhen und wahrte eine Art Frieden.

Das Erwachen des Spaltpilz-Dämons

Bis im Sommer und vor allem im Herbst 2019. Da erwachte ein Dämon. Erst noch etwas schüchtern und leise, aber zunehmend grösser und lauter machte er sich bemerkbar. Es entwickelte sich ein offener Streit in den Reformierten Kirchen der Schweiz. Die Gläubigen, allen voran die Pfarrerinnen und Pfarrer der verschiedenen Lager, krochen gleichsam aus ihren Gräben und stellten sich auf dem offenen Feld einander gegenüber.

Der Auslöser für den auf einmal so offen geführten Streit war das Thema „Ehe für alle“, insbesondere die Frage, ob die Kirche ein Paar von zwei Frauen oder zwei Männern trauen solle oder nicht. Es kam dann schnell die Frage, ob eine solche Beziehung überhaupt im Sinne des Schöpfungswillens Gottes sein könne, ob Homosexualität nicht vielmehr klar eine Sünde wäre, weil das ja so in der Bibel stünde. Und von da kam dann bald die Frage nach der Autorität und Verbindlichkeit der Bibel und nach deren Wahrheitsgehalt.

Einen ersten Höhepunkt des Streits gab es Ende Oktober und Anfang November, als die Abgeordnetenversammlung des SEK, das Parlament der Schweizer Reformierten, über ihre Haltung zur zivilen Ehe und zur kirchlichen Trauung gleichgeschlechtlicher Paare abstimmte. Zwei konträre Papiere aus der Pfarrschaft machten die Runde. Eines gegen die Ehe für alle, und eines dafür. Das erste wurde von rund 200 Pfarrerinnen und Pfarrern unterschrieben, das zweite von etwa 450. Der Ton beider Papiere war kämpferisch und ziemlich unversöhnlich. Von beiden Seiten wurde die jeweils andere Seite mit schweren Vorwürfen eingedeckt. Die einen sprachen den anderen den wahren Glauben ab, die anderen konterten, die einen würden die Liebe verraten. Ein hässlicher Graben tat sich auf, oder wurde auf einmal sichtbar. Und auf den ersten Blick zumindest schien keine Brücke in Sicht.

Und an dieser Stelle stehen wir heute. Der Streit bringt nicht täglich Schlagzeilen, aber der Dämon wirkt in den Schaltstellen der Kirchen und in den Gremien und Teams und Kapiteln. Er packt die Kirche, schüttelt sie, lässt sie erstarren, wirft sie ins Feuer oder in den Abgrund, bringt ihre Vertreterinnen zum Schäumen, oder treibt hässliche Blüten in den Kommentarspalten der verschiedenen sozialen und asozialen Medien. Der Dämon arbeitet daran, dass die Kirche sich spaltet. Dass die Lager sich trennen und je eigene Wege gehen, die einen ohne kirchliche Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, die anderen faktisch auch: denn das wirklich Verrückte ist doch dies: Es gibt kaum gleichgeschlechtliche Paare, die überhaupt noch einen Segen von der Kirche wünschen oder erwarten. Wir haben diese Menschen mit ihrer Regenbogenliebe längst verloren.

Die Suche nach Frieden

Die Jahreslosung des zu Ende gehenden Jahres lautete: Suche Frieden und jage ihm nach! Der Dämon, der die Kirche spalten will, hat erfolgreich die Erinnerung an diese Losung ausgelöscht. Nur schon darum bin ich für eine Verlängerung. Damit unser Denken und Handeln im kommenden Jahr hoffentlich mehr auf den Frieden bedacht sein wird.

Ich will mein Denken und Reden und Handeln darauf ausrichten, dass der Spaltpilz-Dämon seinen Willen nicht kriegt. Ich will einen Frieden suchen, der diesen Namen verdient. Ich will nicht dahin zurück, wo wir still in unseren je eigenen Lagern verharrten und einander in Ruhe liessen. Ich will ein ehrliches Ringen miteinander, einen Streit, der nicht auf Rechthaben und Niederschreien des anderen aus ist, sondern auf Zuhören, Verstehen und Lernen.

Ich glaube daran, dass das der richtige Weg ist. Ich glaube daran, dass die Liebe und die Vergebung die Kraft haben, ein solches Miteinander trotz der Unterschiede zu finden. Ich glaube daran, dass Christus selbst diesen Weg geht und uns darin vorausgeht. Das glaube ich.

Ob mein Glaube auch genügt? Der Spaltpilz-Dämon ist stark. Er hat mächtige Verbündete: Die menschlichen Leidenschaften und die menschliche Angst. Ich lasse mich zum Beispiel schnell zu Wut reizen, wenn ich lieblose und verletzende Worte und Denkweisen wittere. Dann schalte ich auf Kampfmodus und will dem anderen nur noch sein Unrecht um die Ohren hauen, und schon stehen wir einander gegenüber und blockieren uns gegenseitig.

Viele reagieren bei Glaubensfragen besonders empfindlich, denn es würde ja viel von unserer Identität in sich zusammenfallen, wenn sich das, woran wir glauben, als unwahr herausstellen würde. Wenn also jemand ein Leben lang gehört hat, oder gar selber gepredigt hat, dass Homosexualität eine Sünde sei, dann ist es ein grosser Schritt, eine solche Überzeugung grundlegend zu ändern. Man müsste zugeben, dass man ein Leben lang einem Irrtum aufgesessen ist. Das kratzt gehörig an der Eitelkeit. Oder man müsste annehmen, dass Gott seine Meinung geändert hätte. Das lässt sich aber nur sehr schwer mit irgendetwas verbinden, das wir sonst so von Gott denken.

(Dass Gott seine Meinung ändern kann, davon gibt es aber in der Bibel einige Beispiele. Gedacht sei an die Sintflutgeschichte, wo Gott entschied, die ganze Schöpfung wieder zu vernichten. Oder an die Jona-Geschichte, wo Gott Erbarmen zeigte und Ninive nicht vernichtete.)

Es braucht also einiges, damit der Spaltpilz-Geist ausgetrieben werden und der Friede kommen kann. Allein kann ich das nicht machen. Es braucht die Bereitschaft von allen, die Frontstellung aufzugeben und gemeinsam in eine Vorwärtsrichtung zu blicken.

Ich glaube daran, dass es richtig ist, dieses Ziel zu verfolgen. Ich will daran glauben, dass Liebe und Vergebung stärker sind als der Spaltpilz-Geist. Manchmal zweifle ich doch daran, ob es gelingen kann. Es kann an so vielem scheitern!

Jesus sagte über den stummen Geist des Jungen: „Diese Art lässt sich nicht anders austreiben als durch Gebet.“

Ich denke, beten allein wird sicher nicht genügen, den Frieden zu bringen. Es geht nicht ohne viel Anstrengung von vielen. Aber es geht sicher auch nicht ohne beten. Und sei es nur das Gebet um neuen Glauben, dass der Friede möglich ist.

Ich glaube, hilf meinem Unglauben!