Ich glaube, hilf meinem Unglauben! (Mk 9, 24)

Meine Predigt zum Jahreswechsel über die Jahreslosung 2020, mit Rückbesinnung auf die Jahresolung 2019: “Suche Frieden und jage ihm nach!” (Ps 34, 15)

Liebe Leserin, lieber Leser

“Ich glaube, hilf meinem Unglauben!” Dieser Verzweifelte Ruf eines Vaters. Dieses seltsame, in sich widersprüchliche Gebet. Denn was ist jetzt wahr? Der Glaube oder der Unglaube? Wie kann beides zusammen in einem Satz gesagt werden?

Die Worte stehen im Zusammenhang einer Geschichte (Mk 9, 14-29; zum Lesen klicken). Darin wird erzählt, wie Jesus einen Jungen heilt, der von einem ziemlich bösen Geist besessen ist. Bei den Symptomen, die da beschrieben werden, würden wir heute wohl eine schwere Form der Epilepsie diagnostizieren. Wir würden das Kind in ein Krankenhaus bringen. Spezialisierte Ärztinnen würden es mit Medikamenten einstellen. Man würde seine Lebensumgebung so sicher wie möglich gestalten und das Umfeld schulen, damit das Kind trotz der Krankheit so gut wie möglich leben kann. Vielleicht würden auch Leute beten für das Kind und die Familie. Und die, die beten, sind auch sonst da, wenn man sie mal braucht, zur Ermutigung oder zur Entlastung oder einfach nur für die Gewissheit, nicht allein zu sein.

Nur eines wird man nicht können: Die beste medizinische Versorgung und alle Gebete zusammen werden das Kind nicht von der schweren Krankheit heilen können.

Glauben und Wunder

Jesus hat den Jungen geheilt.
Ob das wirklich so passiert sein kann? Es klingt wie ein Wunder, was Jesus da vollbracht hat. Und Wunder sehe ich eher skeptisch. Möglich, dass Jesus solche Wunder bewirkt hat. Mein Glaube, mein Vertrauen auf Jesus, gründet aber nicht auf diesen Wundern. Ich glaube ihm nicht deshalb, weil er magische Tricks kann, ich glaube ihm nicht deshalb, weil er einen epileptischen Jungen gesund gemacht hat. Ich glaube ihm, weil er mich mit seiner Liebe berührt hat. Ich vertraue ihm, dass er immer bei mir ist, egal was in meinem Leben geschieht, egal wie verzweifelt eine Situation werden kann. Weil er da ist, auch wenn das Wunder nicht geschieht. Denn gerade da zeigt sich die Liebe.

Ich höre schon die Einwände: Wie kannst du am Wunder zweifeln – ja solchen Zweifel auch noch predigen? Es steht in der Bibel, also ist es doch wahr!

Ja, es steht in der Bibel. Und ja, die Bibel ist die Heilige Schrift, zu der auch ich mich bekenne. Dennoch ist nicht einfach alles in einem faktisch- historischen Sinn wahr, was in der Bibel steht, und schon gar nicht einfach nur deshalb, weil es in der Bibel steht. Die Wahrheit ist mehr, als ein paar Buchstaben in einem alten Buch.

Glaubende und Glaubende

Seit ich mich mit der Bibel befasse, und das ist seit ich lesen kann, nehme ich durch die Christenheit hindurch eine Trennlinie wahr. Es gibt die einen, für die ist die Bibel das vollkommen wahre, irrtumsfreie Wort Gottes und höchste Autorität. Und es gibt die, die wie ich, Aussagen der Bibel an der Wirklichkeit der Erfahrung prüfen, im Theologiestudium dann auch noch vertieft mit den Methoden der Geschichtswissenschaft. Für mich ist die Bibel nicht ohne weiteres selbst das Wort Gottes. Sie ein Zeugnis dieses Wortes. Ein Zeugnis des Ringens der Menschen mit Gott und seinem Wort. Ein Zeugnis der immerwährenden Suche nach der Wahrheit Gottes. Sie ist Quelle, um auch heute das Wort Gottes hören zu können, zwischen den Zeilen der Biblischen Texte, durch sie hindurch, angeregt durch sie, aber niemals allein in den Buchstaben der Bibel.

In meinen ersten zwanzig Jahren im Pfarramt habe ich es selten erlebt, dass in der Kirche ernsthaft über diese sehr unterschiedlichen Zugänge zur Bibel diskutiert wurde. Man wusste, dass es die Unterschiede gab. Man spottete vielleicht mal über die Naivität der Frommen, oder schimpfte über die ungläubigen Pfarrer. Ansonsten liess man die Sache ruhen und wahrte eine Art Frieden.

Das Erwachen des Spaltpilz-Dämons

Bis im Sommer und vor allem im Herbst 2019. Da erwachte ein Dämon. Erst noch etwas schüchtern und leise, aber zunehmend grösser und lauter machte er sich bemerkbar. Es entwickelte sich ein offener Streit in den Reformierten Kirchen der Schweiz. Die Gläubigen, allen voran die Pfarrerinnen und Pfarrer der verschiedenen Lager, krochen gleichsam aus ihren Gräben und stellten sich auf dem offenen Feld einander gegenüber.

Der Auslöser für den auf einmal so offen geführten Streit war das Thema „Ehe für alle“, insbesondere die Frage, ob die Kirche ein Paar von zwei Frauen oder zwei Männern trauen solle oder nicht. Es kam dann schnell die Frage, ob eine solche Beziehung überhaupt im Sinne des Schöpfungswillens Gottes sein könne, ob Homosexualität nicht vielmehr klar eine Sünde wäre, weil das ja so in der Bibel stünde. Und von da kam dann bald die Frage nach der Autorität und Verbindlichkeit der Bibel und nach deren Wahrheitsgehalt.

Einen ersten Höhepunkt des Streits gab es Ende Oktober und Anfang November, als die Abgeordnetenversammlung des SEK, das Parlament der Schweizer Reformierten, über ihre Haltung zur zivilen Ehe und zur kirchlichen Trauung gleichgeschlechtlicher Paare abstimmte. Zwei konträre Papiere aus der Pfarrschaft machten die Runde. Eines gegen die Ehe für alle, und eines dafür. Das erste wurde von rund 200 Pfarrerinnen und Pfarrern unterschrieben, das zweite von etwa 450. Der Ton beider Papiere war kämpferisch und ziemlich unversöhnlich. Von beiden Seiten wurde die jeweils andere Seite mit schweren Vorwürfen eingedeckt. Die einen sprachen den anderen den wahren Glauben ab, die anderen konterten, die einen würden die Liebe verraten. Ein hässlicher Graben tat sich auf, oder wurde auf einmal sichtbar. Und auf den ersten Blick zumindest schien keine Brücke in Sicht.

Und an dieser Stelle stehen wir heute. Der Streit bringt nicht täglich Schlagzeilen, aber der Dämon wirkt in den Schaltstellen der Kirchen und in den Gremien und Teams und Kapiteln. Er packt die Kirche, schüttelt sie, lässt sie erstarren, wirft sie ins Feuer oder in den Abgrund, bringt ihre Vertreterinnen zum Schäumen, oder treibt hässliche Blüten in den Kommentarspalten der verschiedenen sozialen und asozialen Medien. Der Dämon arbeitet daran, dass die Kirche sich spaltet. Dass die Lager sich trennen und je eigene Wege gehen, die einen ohne kirchliche Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, die anderen faktisch auch: denn das wirklich Verrückte ist doch dies: Es gibt kaum gleichgeschlechtliche Paare, die überhaupt noch einen Segen von der Kirche wünschen oder erwarten. Wir haben diese Menschen mit ihrer Regenbogenliebe längst verloren.

Die Suche nach Frieden

Die Jahreslosung des zu Ende gehenden Jahres lautete: Suche Frieden und jage ihm nach! Der Dämon, der die Kirche spalten will, hat erfolgreich die Erinnerung an diese Losung ausgelöscht. Nur schon darum bin ich für eine Verlängerung. Damit unser Denken und Handeln im kommenden Jahr hoffentlich mehr auf den Frieden bedacht sein wird.

Ich will mein Denken und Reden und Handeln darauf ausrichten, dass der Spaltpilz-Dämon seinen Willen nicht kriegt. Ich will einen Frieden suchen, der diesen Namen verdient. Ich will nicht dahin zurück, wo wir still in unseren je eigenen Lagern verharrten und einander in Ruhe liessen. Ich will ein ehrliches Ringen miteinander, einen Streit, der nicht auf Rechthaben und Niederschreien des anderen aus ist, sondern auf Zuhören, Verstehen und Lernen.

Ich glaube daran, dass das der richtige Weg ist. Ich glaube daran, dass die Liebe und die Vergebung die Kraft haben, ein solches Miteinander trotz der Unterschiede zu finden. Ich glaube daran, dass Christus selbst diesen Weg geht und uns darin vorausgeht. Das glaube ich.

Ob mein Glaube auch genügt? Der Spaltpilz-Dämon ist stark. Er hat mächtige Verbündete: Die menschlichen Leidenschaften und die menschliche Angst. Ich lasse mich zum Beispiel schnell zu Wut reizen, wenn ich lieblose und verletzende Worte und Denkweisen wittere. Dann schalte ich auf Kampfmodus und will dem anderen nur noch sein Unrecht um die Ohren hauen, und schon stehen wir einander gegenüber und blockieren uns gegenseitig.

Viele reagieren bei Glaubensfragen besonders empfindlich, denn es würde ja viel von unserer Identität in sich zusammenfallen, wenn sich das, woran wir glauben, als unwahr herausstellen würde. Wenn also jemand ein Leben lang gehört hat, oder gar selber gepredigt hat, dass Homosexualität eine Sünde sei, dann ist es ein grosser Schritt, eine solche Überzeugung grundlegend zu ändern. Man müsste zugeben, dass man ein Leben lang einem Irrtum aufgesessen ist. Das kratzt gehörig an der Eitelkeit. Oder man müsste annehmen, dass Gott seine Meinung geändert hätte. Das lässt sich aber nur sehr schwer mit irgendetwas verbinden, das wir sonst so von Gott denken.

(Dass Gott seine Meinung ändern kann, davon gibt es aber in der Bibel einige Beispiele. Gedacht sei an die Sintflutgeschichte, wo Gott entschied, die ganze Schöpfung wieder zu vernichten. Oder an die Jona-Geschichte, wo Gott Erbarmen zeigte und Ninive nicht vernichtete.)

Es braucht also einiges, damit der Spaltpilz-Geist ausgetrieben werden und der Friede kommen kann. Allein kann ich das nicht machen. Es braucht die Bereitschaft von allen, die Frontstellung aufzugeben und gemeinsam in eine Vorwärtsrichtung zu blicken.

Ich glaube daran, dass es richtig ist, dieses Ziel zu verfolgen. Ich will daran glauben, dass Liebe und Vergebung stärker sind als der Spaltpilz-Geist. Manchmal zweifle ich doch daran, ob es gelingen kann. Es kann an so vielem scheitern!

Jesus sagte über den stummen Geist des Jungen: „Diese Art lässt sich nicht anders austreiben als durch Gebet.“

Ich denke, beten allein wird sicher nicht genügen, den Frieden zu bringen. Es geht nicht ohne viel Anstrengung von vielen. Aber es geht sicher auch nicht ohne beten. Und sei es nur das Gebet um neuen Glauben, dass der Friede möglich ist.

Ich glaube, hilf meinem Unglauben!

… und hätte die Liebe nicht…

In den letzten Wochen wurde ich mit einigen Einwänden zu meiner Argumentation in den bisherigen hier veröffentlichten Gedanken konfrontiert. In den folgenden Tagen und Wochen werde ich mich nach und nach mit den einzelnen Einwänden und Gegenargumenten auseinandersetzen.

  1. Die Liebe als hermeneutischer Schlüssel – als «Brille», durch die ich die Bibel lese
  2. Die Frage der «Autorität» der Heiligen Schrift
  3. Die Sache mit der Schöpfungsordnung
  4. Und schliesslich der Vollständigkeit halber: Mein Kommentar zu den drei Bibelstellen, die immer wieder im Zusammenhang mit Homosexualität zitiert werden.

Heute also erstens: Die Liebe als hermeneutischer Schlüssel

Die Einwände und Gegenargumente, die ich oft zu hören und zu lesen kriege, lauten ungefähr so:

  • Du machst es dir zu einfach. Mit der Liebe bügelst du über alles Unangenehme und Anspruchsvolle in der Bibel hinweg.
  • Du wählst nur, was dir aus der Bibel behagt, verfälschst mit deinem Rosinenpicken den vollen Umfang des Wortes Gottes.
  • Du predigst ein Weichspüler-Evangelium.
  • Du kannst nicht mit dem Argument der Liebe etwas rechtfertigen, was der Schrift klar widerspricht.

Ich werde im Folgenden nicht die Punkte einzeln widerlegen. Aber am Ende meines Textes sollte zu jedem dieser Einwände (und noch einigen mehr) klar sein, wie ich dazu stehe.

Zuerst muss eines klar sein: Ich stelle die Liebe über alles, weil mir das die Bibel so sagt. Ich frage mich, wie man als Christenmensch, der sich ernsthaft und redlich und im Bestreben, Gottes Wort zu hören und zu verstehen mit der Bibel auseinandersetzt, nicht darauf kommt, die Liebe über alles zu stellen! Wenn ich eine Liste der wichtigsten Bibelstellen zum Thema Liebe aufstellen müsste, ich wüsste nicht wo anfangen, und erst recht nicht, wo aufhören. Die nachstehende Aufzählung ist also nicht vollständig, und die möglicherweise in der Reihenfolge wahrgenommene Gewichtung erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Liebe in der Bibel

1. Jesus nenn die Liebe das grösste Gebot:

Er sagte zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das höchste und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Mt 22, 37-40 (und Parallelstellen)

2. Dieses doppelte Liebesgebot hat schon Mose dem Volk vermittelt. Die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst wird in Lev 19, 18 geboten, die Liebe zu Gott ist zum eigentlichen Bekenntnis Israels geworden:

Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Dtn 6, 4-5

3. Jesus nimmt Liebestaten an unseren Mitmenschen persönlich (und auch den Mangel an Liebe):

Und der König wird ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Mt 25, 40.45

4. Gott ist Liebe:

Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Mt 25, 40.45

5. Aus Liebe sendet Gott seinen Sohn:

Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er den einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Joh 3, 16

6. Liebe ist das Erkennungsmerkmal der Christen für die Welt:

Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt. Joh 13, 34-35

7. Ohne die Liebe ist alles nichts:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz, eine lärmende Zimbel. Und wenn ich die Gabe prophetischer Rede habe und alle Geheimnisse kenne und alle Erkenntnis besitze und wenn ich allen Glauben habe, Berge zu versetzen, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts. Und wenn ich all meine Habe verschenke und meinen Leib dahingebe, dass ich verbrannt werde, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts. 1Kor 13, 1-3

Wenn ich neben diese Liste, die nur eine winzige Auswahl darstellt, die paar Stellen betrachte, die sich mit dem gleichgeschlechtlichen Geschlechtsakt befassen, dann sagt mir das schon mal ganz klar, welches Thema für die Bibel wichtiger ist. Es ist für mich offenkundig, dass die Liebe ein sehr zentrales Thema der Bibel ist, und dass dies bei allem, was aus der Perspektive des christlichen, auf die Bibel gründenden, Glaubens heraus gesagt und getan wird, bedacht werden muss.

Der eigene Mangel an Liebe

Wenn ich in meinen theologischen Argumenten die Liebe als Grundlage nehme, sage ich damit nicht, dass ich selbst darin so gut wäre. Wenn ich in der Verurteilung der Homosexualität durch andere Christinnen eine Lieblosigkeit sehe, die ich als solche kritisiere, dann bin ich mir bewusst, dass möglicherweise allein schon diese Kritik an meinen Glaubensgeschwistern einem Mangel an Liebe bei mir selbst entsprungen sein könnte. In Sachen Liebe bin ich selbst ein Lernender. In Kol 3, 16 (und ähnlich in diversen anderen Briefen im NT) heisst es, wir Christen sollen uns in aller Weisheit ermahnen. Auf solche Weisung berufen sich viele, wenn sie Homosexuellen sagen, dass sie in Sünde leben würden. Man müsse doch seine Brüder und Schwestern ermahnen um sie vor Sündenstrafe zu bewahren! Nun, ich ermahne meine Mitlernenden und mich selbst, die Sünde der Lieblosigkeit zu überwinden.

Was die Liebe in der Bibel bedeutet

Mit ganz wenigen Ausnahmen ist im Neuen Testament mit Liebe die Agape gemeint, die Caritas, die Nächstenliebe, die Fürsorge für den Mitmenschen, bis hin zur Selbstaufopferung. Im Matthäusevangelium schliesst die Liebe eine ziemlich starke Kritik am Reichtum ein. Wer selber nichts hat, und dann auch noch dem Mitmenschen mehr gibt, als man selber behält, der erfüllt das Gebot der Liebe. Der lebt wirklich in der Nachfolge Jesu Christi. Nur wer auf den irdischen Besitz verzichtet und alles aufgibt und den Armen verschenkt, der sammelt sich einen Schatz im Himmel. So radikal interpretiert Mt die Botschaft Jesu. Und das ist eine sehr grosse Herausforderung. Es ist unbequem. Mir ist es viel unbequemer als die paar ablehnenden Stellen zur Homosexualität. Denn diese radikale Forderung der Selbstverleugnung und unbedingten und vollständigen Hinwendung zum Mitmenschen scheint mir ziemlich zentral. Mein Leben aber, und das Leben von fast allen Mitgliedern meiner Gemeinde, ist weit von diesem Bild entfernt. Die paar hundert Franken, die ich an die Mission 21 (oder an die Kampagne «Ja zum Schutz vor Hass» zur Abstimmung am 9. Februar) spende, wiegen niemals die krasse Differenz zur biblischen Forderung der Armut auf. In Bezug auf dieses Gebot gebe ich zu, dass ich in meinem Leben und in meinen Predigten das Evangelium weichspüle.

Es dreht sich in der Bibel, in konzentrierter Form im NT, alles um die Agape-Liebe. Paulus schreibt in seinem bekannten Kapitel im ersten Korintherbrief über die Liebe. Er schreibt, dass ohne die Liebe alles andere nichts ist. Das Kapitel wird so oft zitiert und rezitiert und in fast kitschige Zusammenhänge gebracht, dass die Sprengkraft, die diese Worte haben, vielleicht etwas abgeschliffen ist. Aber wenn wir uns den Text eben doch wieder mal im Zusammenhang ansehen, erkennen wir: Paulus schreibt den schwärmerischen, chaotischen und streitsüchtigen korinthischen Christinnen und Christen, dass sie alles rauchen können, worauf sie so stolz sind, dass ihre ganze Weisheit und Zungenrede und Superfrömmigkeit etc. nichts ist. Nur eines zählt: die Liebe. Und in dieser Liebe wird alles Rechthaben und alles Wissen oder Nichtwissen und alle moralische Überlegenheit unwichtig. Denn die Liebe eifert nicht, sie sucht nicht das ihre, sie rechnet das Böse nicht an, sie trägt alles, sie erduldet alles, und so weiter.

Der Konfliktfall

In der Bibel gibt es Stellen, die sind schwer mit dem Gebot der Liebe in Einklang zu bringen. Etwa, dass man seine Kinder mit dem Stock erziehen solle (Spr 23, 13f; 13, 24), dass die Frauen schweigen und Kinder kriegen sollen, um für die Schuld am Sündenfall Abbitte zu leisten (1Tim 2, 11-15), oder eben die Verurteilung gleichgeschlechtlich liebender Menschen (Röm 1, 26f). Wer solche Stellen dem exakten Wortsinn gemäss befolgen will, wird zwangsläufig anderen Menschen Schmerzen zufügen oder sie für das, was sie sind, herabsetzen. Ich sehe in solchen Handlungen eine Verletzung des Liebesgebotes. Ich stehe also vor der Frage: Welche Worte der Bibel gewichte ich höher? Ich kann nicht gleichzeitig das Liebesgebot treu befolgen und die besagten drei Stellen wörtlich in mein handelndes Leben übernehmen. Welches Gebot werde ich also verletzen?

Mache ich es mir wirklich zu leicht, wenn ich so überlege? Ist es billige Rosinenpickerei, die ich betreibe, wenn ich auf die Herabsetzung der Frauen, die Verurteilung der LGBTQ-Menschen und die Züchtigung der Kinder verzichte, weil mich die Liebe etwas anderes gelehrt hat, nämlich dass alle Menschen von Gott gleich geliebt und darum völlig gleichwertig sind, und dass sich Liebe auch wie Liebe anfühlt und nicht wie das Gegenteil?

Lieber Leserin, lieber Leser, urteilen Sie selbst. Ich weiss, wo die Schwächen meiner Argumentation liegt. Nicht bei der Entscheidung im Zweifel die Liebe zu wählen. Sondern wenn schon in meiner eigenen Inkonsequenz bei eben dieser Liebe. Da bleibt am Ende eben noch das Vertrauen auf Christus, die Hoffnung auf seine Barmherzigkeit und die Gewissheit, dass ER mich liebt. Darauf kommt es an. Am Ende nur darauf.

Ehe für alle: Wie weiter nach dem Ja?

Was sich in der Kirche aber klar verändert hat, ist die Stimmung. Es gibt jetzt Lager und Fronten. Es gibt rund 200 hüben, und es gibt rund 450 drüben. Es gibt viele, die zur Frage der Ehe für alle eine klare Position haben, ohne dass sie eines der Dokumente unterschrieben haben. Vielleicht gibt es auch noch ein paar Kolleginnen und Kollegen, die noch abwägen und sich nicht klar positionieren können.

Wenn die Diskussionen im gleichen Stil weiterlaufen, wie in den letzten paar Wochen, wird das nur zur Verhärtung der Fronten führen. Es besteht das Risiko, dass es in den verschiedenen Kantonalkirchen zu lauter Zweiten Kappeler Kriegen kommt mit desaströsen Folgen für die Kirche. ICH WILL DAS NICHT! Und ich glaube noch daran, dass es bessere Wege gibt. Ich hoffe noch auf eine Milchsuppe. Und hier ist das Rezept dazu, soweit mein heutiger Stand des Irrtums das überblicken kann.

Was es für die weitere Diskussion NICHT braucht:

Es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig von der Richtigkeit der eigenen Position und der Verkehrtheit der anderen Position überzeugen wollen. Ich bin für die Öffnung der Ehe für alle, und niemand wird mich umstimmen können. Die Argumente hüben und drüben liegen auf dem Tisch. Wesentlich neue wird es nicht geben.

Ja, ich habe auch ausgeteilt. Ich gehöre zu den 450 von drüben, die das Dokument «Die Liebe hat den langen Atem» mitunterzeichnet haben. Ich verantworte also diese Erklärung mit, die sich formal an die Barmer Erklärung anlehnt, die so einen status confessionis heraufbeschwört, der weit weg von angebracht ist, und der mit den «Wir verwerfen…»-Formulierungen viel zur Verhärtung der Frontstellung und wenig zu einem echten Dialog beiträgt. Ich habe nicht wegen, sondern trotz dieser Eigenschaften des Dokuments unterschrieben. Weil ich das Anliegen teile, weil ich der Überzeugung bin, dass die Liebe das leitende Prinzip für unser kirchliches und menschliches Handeln sein muss, und im Zweifelsfall die Liebe höher zu gewichten ist als der Buchstabe der Schrift. Und weil ich wollte, dass die Abgeordnetenversammlung Kenntnis davon erhält, dass es nicht nur die Unterzeichnenden des Dokuments «Habt ihr nicht gelesen…?» gibt. Darm musste es schnell gehen, darum meine Unterschrift.

In der Fortsetzung der Diskussion braucht es keine weiteren Unterschriftensammlungen mehr. Es braucht keine neuen Papiere, die altbekannte Positionen markieren und zementieren. Wir müssen jetzt einen nächsten Schritt gehen.

Worüber wir reden müssen

Was es jetzt braucht, ist ein Gespräch über die Frage:

Wie können wir weiterhin gemeinsam Kirche sein?

Ist es möglich, dass eine Pfarrerin ein schwules Paar traut, dass dies ihrem Kollegen in der Nachbargemeinde (oder gar in derselben Gemeinde) ein Gräuel ist, und dass dennoch beide in gegenseitigem Respekt ihren Dienst in der Kirche tun? Ohne, dass sie sich gegenseitig das Christsein absprechen, oder die Treue zur Heiligen Schrift? Oder die Begabtheit mit Vernunft? Wie viel Differenz verträgt es bei der Grundeinstellung zur Bibel? Wie viel gemeinsamer Boden ist unerlässlich, um in aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit gemeinsam das Evangelium Jesu Christi verkünden zu können?

Ich meine, es braucht vielleicht nicht zwingend eine breite inhaltliche Einigung. Was es aber braucht, ist eine Gesprächsgrundlage und eine Gesprächskultur. Es gibt Streit, ja. Und es soll gestritten werden können. Aber so, dass wir uns dabei ansehen. So, dass wir einander zuhören. So, dass wir versuchen zu verstehen, warum die andere so denkt, wie sie denkt, und nicht so, wie ich.

Ich weiss nicht, ob so etwas gelingen kann. Ich merke bei mir selbst, wie schwierig es ist. Ich bin nämlich ziemlich überzeugt davon, dass ich die Dinge richtig sehe. Es fällt mir schwer, gewisse Positionen über die Autorität der Bibel als irrtumsfreies Wort Gottes nachzuvollziehen. Weil ich beim Lesen der Bibel zu viele Unklarheiten und Widersprüche und ja, auch Irrtümer sehe. Und es wird niemandem gelingen, mich von einer anderen Sichtweise zu überzeugen. Ich muss mich wirklich fragen, wie ich damit klarkomme, dass es etliche Kolleginnen und Kollegen gibt, die eine völlig andere Grundeinstellung zur Bibel haben.
Und jene anderen müssen sich fragen, wie sie mit mir umgehen können oder wollen. Könnt ihr, die ihr die Bibel für das Irrtumsfreie Wort Gottes und darum oberste Autorität anseht, damit umgehen, dass ich das anders sehe und dennoch überzeugter Christ bin, und leidenschaftlicher Pfarrer, der die Bibel liebt und Gott liebt und zumindest ehrlich bemüht ist, auch die Menschen zu lieben?

Denn da wäre meine Grenze: Ich könnte schlecht mit Kolleginnen und Kollegen in derselben Kirche denselben Dienst tun, wenn jene mir die Legitimation für diesen Dienst insgeheim oder offen absprechen, mich nicht als Bruder im Glauben sehen.

Darüber müssen wir reden. Wir müssen uns zusammenraufen und uns finden und uns einigen, dass wir gemeinsam Kirche sind und sein wollen.

Gastbeitrag von Lilian Jost

Lilian Jost hat mir ihre Replik zur Schrift “Habt ihr nicht gelesen” zugestellt und mir erlaubt, ihren Text auf meinem Blog zu publizieren. Ich freue mich zu sehen, dass Lilian – und noch viele andere engagierte, denkende und liebende Menschen – ganz ähnliche Reaktionen zeigen und Schlüsse ziehen beim Lesen gewisser Texte. Herzlichen Dank für diesen frisch formulierten Text!

Der nachstehende Text wurde zuerst im Rahmen der Diskussion um die Ehe für alle auf social Media gepostet, daher die Anrede.

Liebe Pfarrer*innen der Reformierten Landeskirchen der Schweiz

Rund 200 von Euch haben eine Erklärung gegen die „Ehe für alle“ unterzeichnet. Sie trägt den Titel „Habt ihr nicht gelesen…?“. Ihr seid dagegen, dass gleichgeschlechtliche Paare in reformierten Landeskirchen getraut werden. Gerne möchte ich mich dazu äussern.

Ich studiere evangelische Theologie in Heidelberg, komme aus Zürich, wuchs in der Zürcher Landeskirche auf und kann mir gut vorstellen, eines Tages wieder hierher zurückzukommen und als Pfarrerin zu arbeiten. Zusammen mit meiner Partnerin, ebenfalls Theologiestudentin. Die ich eines Tages in Deutschland sowohl standesamtlich als auch kirchlich heiraten darf.

Ich richte mich aber nicht nur an euch 200, sondern auch an meine Freund*innen, sollten sie nun Theologie studieren oder nicht – vor allem an letztere, eigentlich. Ich liebe mein Studium. Theologie ist nice, mega spannend, und, wie wir sehen, aktuell. Ich finde es so frustrierend, dass vor allem meine queeren Freund*innen von der Kirche verschreckt und abgeturnt sind. Ich verstehe das vollkommen. Wäre ich auch, wenn ich mich nicht schon mittendrin befinden würde. Aber mich werden diese 200 Pfarrer*innen und die Leute, die sie repräsentieren, so schnell nicht los. Ich will hier bleiben, in der Kirche, und meinen queeren Shit durchziehen, christlich, jawoll! Ich will euch Queers zeigen, dass es auch noch andere gibt, und dass wir mehr und stärker und bunter sind als die, die uns verurteilen.

Und ich bin wütend auf euch, ihr 200 Pfarrer*innen. Hier ist mein Statement. Ich habe eure Erklärung gelesen und will sie Punkt für Punkt kommentieren.

1. „Ehe für Alle ist ein radikaler Bruch mit der christlich-jüdischen Tradition“. Ist es nicht. Viele Kirchen rund um uns herum haben die Ehe geöffnet und sind nicht im (unbiblischen) Fegefeuer verbrannt. Ausserdem sollte Traditionsbruch in der REFORMierten Kirche kein Argument sein. Wenn ihr für Tradition und feste Brauchtümer seid, dann solltet ihr vielleicht nicht für eine Kirche arbeiten, deren Existenz auf dem Bruch mit Traditionen beruht.

2. „Die Kirche steht nicht über der Schrift“. Zeigt uns mal die Stellen, die lesbische und schwule Liebe verbieten. Habt ihr nicht alle viele Semester lang Theologie studiert, Exegese gelernt? Könnt ihr Perikopen nicht mehr in ihrem Kontext verordnen? Nehmt ihr die gesamte Bibel wörtlich? Und warum haltet ihr euch dann nicht an alle Gebote des Alten Testaments?
Ja, die Ehe für Heteropaare wird im Alten wie im Neuen Testament befürwortet. Natürlich. Die dürft ihr ja auch weiterhin durchführen. Aber wenn ihr euch an sola scriptura halten wollt, dann verbietet auch nichts, was die Schrift nicht verbietet.
(BTW: Diejenigen, die „nur tun, was Jesus gebietet, und nichts tun, was Jesus nicht erwähnt“ sind jene Splittergruppen, die sich von der Schweizer Reformation abgespalten haben. Das ist keine reformierte Position. Jesus erwähnt auch keine Weihnachtsbäume, keine Osterhasen, er sagt nie, dass man sich die Zähne putzen oder lachen soll. Aber so natürlich und selbstverständlich wie Zähne putzen oder lachen oder all die tausend anderen Dinge, die Jesus und seine Zeitgenoss*innen niemals erwähnen, ist meine Liebe zu meiner Freundin, diese queere, homosexuelle Liebe.)

3. „Gesellschaftlicher Mainstream wird nicht hinterfragt“. Das hier ist nicht einfach Mainstream. Dass wir uns überhaupt in dieser Lage befinden, wo ENDLICH einmal FAST die Hälfte der Bevölkerung hinter uns steht, ist das Ergebnis jahrzehntelanger – jahrhundeterlanger – Kämpfe, Abmühungen und Aufopferungen. Wir sind hier nicht einfach im Mainstream. Wir Queers und unsere Vorfahr*innen haben der Gesellschaft gezeigt, dass wir richtige, gute Menschen sind, die Gleichberechtigung und komplette Akzeptanz verdient haben. Mainstream. Das ist lächerlich.

4. „So gibt es keine theologische Diskussion mehr“. Leute. Ich LIEBE theologische Diskussion. Ich mache tagein, tagaus wenig anderes. Ich wünschte, viel mehr Menschen würden sich mit theologischen Themen auseinandersetzen! Austausch ist famos! Mehr davon! Aber. Die christliche Trauung verdient eine solche Auseinandersetzung nicht. Sie ist, wenn man sich denn einmal tatsächlich mit ihr auseinandersetzen würde, nicht diskussionswürdig. Ihr habt doch alle Kirchengeschichte studiert, oder? Dann wisst ihr, dass die Ehe seit der Reformation kein Sakrament mehr ist. Sie ist der *Segenszuspruch* von Gott, der sonst keine weiteren Konsequenzen hat. Und Segen benötigen und verdienen wir alle.

Luther schrieb in seinem „Traubüchlein“ von 1529 (ein Traktat, in dem er die Bedeutung und Durchführung der protestantischen Trauung erklärt, zitiert aus: Albrecht, Christian: Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006): „Die aus Trauung, Gebet und Segen bestehende kirchliche Handlung ist eine vom Paar freiwillig begehrte Handlung, mit der das Paar zwar anzeigt, dass es die Ehe als eine von Gott geschlossene Handlung ansieht, sie ist aber zur Gültigkeit der Ehe, die auch vor der weltlichen Obrigkeit geschlossen werden kann, nicht notwendig. [Drittens,] wo eine Trauung begehrt wird, da ist sie auch zu gewähren: „So man von uns begehrt, vor der Kirche oder in der Kirche sie [sic: die Brautleute] zu segnen, über sie zu beten oder sie auch zu trauen, sind wir schuldig, dasselbe zu tun.““

Hoppla. Als Grund für die Durchführung einer kirchlichen Trauung reicht also, dass die Brautleute (super Wort, nicht gegendert) das WOLLEN?! Sie ist die Bestätigung vor Gott, die das Paar freiwillig begehrt?! Der einzige ersichtliche Knackpunkt hier ist die weltliche Ehe, die unsere langsame Demokratie immer noch nicht gebacken bekommen hat. Aber 1) allerspätestens dann gibt es in der reformierten Kirche, die schon immer eng mit der „weltlichen Obrigkeit“ zusammengearbeitet hat, keinen Grund mehr, den Brautleuten die Trauung zu verweigern, und 2) darf die Kirche auch mal schneller sein als der Staat. Weil, ähem, die Reformation ist passiert. Schweizer Kirchen und die Menschen, die sie repräsentieren, war mal ganz besonders fortschrittlich. Also, so ziemlich die fortschrittlichsten in der gesamten Christenheitsgeschichte, bis dato.

Kleiner Zusatz: Die Matthäusstelle, die ihr als Grundlage für euer Eheverständnis zitiert (Mt 19,4-6: „Er aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie am Anfang schuf als Mann und Frau und sprach (1. Mose 2,24): »Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein«? So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch.“) ist ja schön und gut. Aber ein kleines Detail lasst ihr aus: Vers 6 ist nur bis zur Hälfte zitiert. Der Rest des Satzes lautet: „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden!“

Ups. Der Kontext ist nämlich die Frage der Pharisäer, wie Jesus zur Scheidung steht. Und er sagt: Scheidung ist schlecht.
Moment, die reformierte Kirche ist aber gar nicht gegen die Ehescheidung, oder? Ah, verstehe, da ist die Kirche mit dem „gesellschaftlichen Mainstream“ mitgegangen. Und versteht die Ehe auch nicht als Sakrament. Mhm. Alles klar – Bibel zitieren ist okay, aber Teilverse und Kontexte weglassen auch, sofern es der eigenen Legitimation dient. Merci, jetzt kann ich beruhigt Theologie weiterstudieren.

Ich möchte folgendes noch einmal betonen: Ja, die frühen Christen und ihre Autor*innen haben die Ehe als einen Bund zwischen Mann und Frau verstanden. Sie lebten im Hellenismus, geprägt von römischer und griechischer Kultur, und das war da halt der gesellschaftliche Mainstream. Das heisst nicht, dass es keine schwulen Männer, lesbischen Frauen, keine Transmenschen gab. Aber die waren in einer militärisch-antiken Kultur wie dieser halt nicht an der Tagesordnung. Es gab auch keine Menschenrechtserklärung oder Antirassismusgesetze im antiken Griechenland.
Aber: nirgends in der gesamten Bibel wird die Liebe zwischen zwei Männern verboten. Da gibt es eine Passage über die schandhafte Vergewaltigung zwischen mehreren Männern, aber Vergewaltigung finden wir glaubs immer noch scheisse. Und zwei Frauen, haha, werden sowieso nie erwähnt. Das konnten sich die Leute damals wahrscheinlich nicht mal vorstellen. Liebe oder Sex zwischen zwei Frauen ist nirgends explizit erwähnt. Und doch gibt es uns, damals und heute. Und nur, weil die uns damals nicht genug auf dem Schirm hatten, um uns in die Illegalität zu treiben, heisst das nicht, dass man uns heute unsere Rechte vorenthalten muss.

Liebe Unterzeichnende der Erklärung,
mit so einer Kirchenpolitik schiesst ihr euch selber in euer humpelndes Bein. Die Kirche ist nicht mehr die grosse Macht, die sie einmal war. Junge Menschen wenden sich ohnehin seit Jahren von ihr ab. Und mit so einem Gugus vertreibt ihr sie / uns noch mehr. Wie gesagt, ich werde bleiben, und hoffe, anderen zeigen zu können, dass Kirche auch anders kann. Ein grosses Ziel, für das wir viel Unterstützung brauchen können. Aber Gott hat uns gemacht, wie wir sind, und er liebt uns genau so. Denn in Genesis 1,31 steht geschrieben: „Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“

Offener Brief an die SEK-Abgeordnetenversammlung

In der SRF-Rundschau am 23. Oktober 2019 wurde über die Gruppe von Pfarrerinnen und Pfarrern Berichtet, die eine Erklärung gegen die Einführung der Ehe für alle abgegeben haben. In meinem Beitrag “Ich habe wohl gelesen” auf diesem Blog habe ich diese Erklärung ausführlich behandelt.

Schon am Tag nach dem Rundschau-Beitrag hatte ich einen persönlichen offenen Brief an die Delegierten des SEK geschrieben und dem Büro der DV zugestellt. Den Inhalt des Briefes habe ich zuerst nur auf facebook gepostet. Für die bessere Auffindbarkeit für Interessierte veröffentliche ich den Wortlaut auch noch mal hier.

Ehe für alle, Ermutigung zur Öffnung; offener Brief

Sehr geehrter Herr Präsident Pierre de Salis
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete

In den vergangenen Tagen liessen sich etliche Pfarrerinnen und vor allem Pfarrer deutlich vernehmen, die sich ablehnend zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare äussern. Es ist mir ein Anliegen, dass nicht nur diese Stimmen gehört werden. Darum gelange ich kurz vor Ihrer Versammlung am 4. und 5. November mit diesem Schreiben an Sie.

Die Empfehlung des Rates des SEK, die kirchliche Trauung für (zivil getraute) gleichgeschlecht­liche Paare zu öffnen, finde ich richtig. Ich sehe darin keinen Bruch mit einer alten Tradition, sondern einen jetzt fälligen nächsten Schritt auf einem fortwährenden Lernweg, auf dem sich die Kirche und schon davor das von Gott erwählte Volk seit den Anfängen bewegt.

Die Kirche hat in der Vergangenheit gegenüber nicht normativ-heterosexuell liebenden Menschen schwere Fehler begangen und aufgrund weniger Buchstaben der Heiligen Schrift Ausgrenzung und Diskriminierung praktiziert, dem Hass Vorschub geleistet und so das Liebesgebot der Bibel verraten. Heute haben wir die Gelegenheit, aus den vergangenen Fehlern und der immer wieder neu gehörten befreienden Liebesbotschaft der Heiligen Schrift zu lernen und einen besseren Weg einzuschlagen im Umgang mit unseren Mitmenschen.

In Ihrer letzten Versammlung im Juni 2019 haben Sie die Wirklichkeit der unterschiedlichen sexuellen Orientierungen als Ausdruck der geschöpflichen Fülle erkannt. Ich ermuntere Sie, auf diesem eingeschlagenen Weg nun den konsequenten nächsten Schritt zu gehen. Einem Liebespaar, egal welchen Geschlechts, das sich für ein verbindliches Zusammenleben in gegenseitiger Verantwortung entscheidet und dafür den Segen Gottes erbittet, soll dieser Segen nicht durch Menschen und erst recht nicht durch die Kirche verweigert werden. Ist eine solche Liebe nicht vielmehr Anlass zum Feiern, für die Liebenden, deren Familien und die Kirche?

Ich danke Ihnen für Ihren verantwortungsvollen Dienst als Abgeordnete im Kirchenbund. Und ich wünsche Ihnen eine segensreiche Versammlung.

Freundliche Grüsse
Matthijs van Zwieten de Blom
Pfarrer in der Evangelisch-Reformierten Kirchgemeinde Rein (AG)

Ich habe wohl gelesen!

Replik an die Unterzeichnenden der Erklärung
Habt ihr nicht gelesen…? – Erklärung zur “Ehe für alle” in der Kirche
vom Oktober 2019, siehe Link.
Die Zwischentitel orientieren sich an der Gliederung des Dokuments, auf das ich mich hier beziehe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Ihr beabsichtigt einen «offenen Diskurs innerhalb der Kirche im Bestreben um Einheit.» Den offenen Diskurs könnt ihr, was mich angeht, haben. Das mit der Einheit sehe ich gerade von eurer Seite infrage gestellt. Solange aber noch gerungen und gestritten wird, gibt es die Hoffnung, dass ein gemeinsames Unterwegssein als Kirche weiterhin möglich ist. Versteht meinen Text als Beitrag in diesem von euch beabsichtigten Diskurs.

Ihr schreibt, dass ihr bereit seid, euch durch das Zeugnis der Heiligen Schrift und durch Gründe der Vernunft korrigieren zu lassen. Ich stelle mich nicht auf den Standpunkt, das Subjekt irgendeiner Korrekturwirkung an euch sein zu können. Ich stehe an derselben Seite der Offenbarung (nämlich auf der empfangenden), und um die Vernunft muss ich mich bemühen wie ihr. Die Einsicht muss in jedem selbst erwachsen, und die Korrektur an der eigenen Haltung hat jeder selbst zu verantworten.

Ich will also nicht euch korrigieren, wohl aber will hier schreiben, was ich anders sehe als ihr. Ich will das mit meinem Blick auf die Heilige Schrift tun, und ich bemühe mich um eine vernunftbasierte Argumentation. Ich kann aber nicht versprechen, dass es nicht auch emotional wird. Ich bin ein menschliches Geschöpf, und es geht hier um eine Sache, die mich als Mensch sehr unmittelbar angeht. Es geht um die Liebe, es geht um Sex und es geht um den Glauben an Christus. Da kann es schon mal leidenschaftlich werden. Gehen wir’s an.

Radikaler Bruch

Ihr seht im Vorschlag des SEK-Rates und verschiedener kantonalkirchlicher Exekutivbehörden einen «radikalen Bruch mit der jüdisch-christlichen Tradition und der Gemeinschaft aller Konfessionen zu allen Zeiten und an allen Orten». Ich sehe keinen Bruch. Ich sehe die Frucht eines langen Lernweges, auf dem wir uns als christliche Kirche seit den Anfängen immer befunden haben. Und wenn wir ernsthaft die jüdische Tradition in unser Denken und Glauben miteinbeziehen wollen, dann könnte sich das gerade in einer ausgeprägten Kultur des Lernens manifestieren. Wir (bzw. die von euch kritisierten Verantwortlichen in den Kirchenleitungen) haben gelernt, dass es falsch war, wie die Kirche in der Vergangenheit mit nicht-normativ-heterosexuell liebenden Menschen umgegangen ist. Und in der festen Überzeugung (meine feste Überzeugung ist es jedenfalls), dass Jesus seine Liebe und Zuwendung nicht von der sexuellen Orientierung abhängig macht, verweigern wir den Liebenden nicht länger den Segen, um den sie bitten.

Kirche nicht über der Schrift

Ihr seht offenbar in der Öffnung der Trauung für nicht-heterosexuelle Norm-Paare einen Entscheid, der nicht auf der Grundlage der Heiligen Schrift gemacht wurde. Und ihr seht darum das Existenzrecht – ihr sagt «Legitimation» – der Kirche als verloren. Dagegen halte ich fest: Die Legitimation der Kirche beruht nicht auf den Beschlüssen ihrer Leitung, sondern auf der Gnade, auf der Berufung und auf der Mission Jesu Christi. Und er, Jesus Christus, das lebendige Wort Gottes, ist es auch, dem die Kirche zu folgen hat. Das Hören auf Gottes Wort ist ein fortwährender Interpretations- und (schon wieder) Lernprozess. Wir sind berufen, um frei zu entscheiden und diese Entscheidungen vor uns selbst, vor den Menschen – insbesondere, wenn wir bestimmte Ämter ausüben – und vor Gott zu verantworten. Wir können diese Freiheit leugnen und uns vor der Verantwortung drücken und uns bequem hinter irgendwelchen Buchstaben der Bibel verkriechen und das als besondere Gottestreue deklarieren. Dann werden die Menschen draussen vor der Buchstabentür geistlich verhungern wie der Arme Lazarus vor den Toren des Reichen Mannes. Die Teenager, die gerade mit ihrer erwachenden homosexuellen Orientierung klarkommen müssen, bleiben ohne Beistand, der ihnen Hoffnung auf ein erfülltes Leben machen würde. Die Erwachsenen, die eine Partnerin fürs Leben gefunden haben und nach allen bisherigen Ablehnungserfahrungen von der Kirche trotz allem aus tiefstem Herzen ersehnen, ihre in gegenseitiger Fürsorge und Verantwortung eingegangene Verbindung nun auch auf den Boden der christlichen Versöhnungskraft und unter den Segen Gottes zu stellen, werden einmal mehr von der Kirche enttäuscht. All diese Menschen rennen an und prallen von der druckerschwarzen Türe ab und zerschellen auf dem Pflaster der unmöglich erfüllbaren Gebote. Ihr aber feiert euer Mahl der Einigkeit auf eurer Seite der Mauer. Ihr Und haltet triumphierend die Heilige Schrift hoch und stellt euch ergebenst darunter. Ihr seht nicht die, die draussen sind unter eurem Schirm der Rechtgläubigkeit keinen Platz mehr finden. Euch kümmern die da draussen nicht. Hauptsache eure Kirche bleibt sauber unter ihrer reinen Schrift.

Gesellschaftlicher Mainstream wird nicht hinterfragt

Das ist Unsinn, ein Strohmann-Argument. Weil die Kirche gleichzeitig wie grosse Teile der Gesellschaft eine Wahrheit erkannt hat, meint ihr, die Kirche als Fähnchen im Wind darstellen zu können, das ständig dem Mainstream-Lüftchen hinterherdreht. Damit werdet ihr der Realität nicht gerecht. Geht doch mal auf die Website des SEK und schaut euch um, was es da für kritische und theologisch wohlbegründete Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Themen in den vergangenen Jahrzehnten gab. Richtig ist, dass sich die Kirche mit den Themen der Zeit auseinandersetzt, mit der Lebenswirklichkeit der Menschen, mit der Welt. Diese Welt ist der Ort, an dem und in den hinein die Interpretation der biblischen Schriften geschieht. Natürlich wird diese Welt und alle, die in ihr leben, durch das in der Bibel bezeugte Gericht radikal infrage gestellt. Genauso gilt, dass wir in dieser Welt und in der jetzigen vorletzten Zeit in der Hoffnung leben können, dass die durch Christus errungene Herrschaft des neuen Äons schon zu uns herüberreicht, dass wir getrost und vertrauensvoll unseren Weg im Vorläufigen freudig und zuversichtlich gehen können.

Keine Theologischen Diskussion mehr

Es mag sein, dass es Vertreterinnen und Vertreter der Kirche gibt, die nicht (mehr) über von ihnen längst durchgekaute und wieder- und wiedergekäute Themen diskutieren mögen und mit einer vielleicht vorschnellen Selbstverständlichkeit zur längst fälligen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare schreiten wollen. Es scheint nötig zu sein, doch noch vertiefter zu debattieren. Ich bin dazu bereit. Ich stelle mich. Ich habe zwar kein kirchenleitendes Amt inne, ich bin nur primus inter pares im Aargauer Pfarrkapitel. Aber ich bin Kollege, ich habe dasselbe Ordinationsgelübde abgelegt wie ihr (zumindest wie die Zürcherinnen und Zürcher unter euch), ich bin Teil derselben Kirchengemeinschaft wie ihr. Also muss gestritten sein. Was ich auch mit diesem Text hier tue.

Auf das Ordinationsgelübde beruft ihr euch explizit, wenn ihr eure Forderungen stellt. Was heisst das nun, liebe Kolleginnen und Kollegen? Was heisst es, dass ich wie ihr dasselbe Gelübde abgelegt habe, dass ich wie ihr nach bestem Wissen und Gewissen meinen Dienst am Wort Gottes aufgrund der Heiligen Schrift und im Geist der Reformation, sowie im Gehorsam gegen Jesus Christus versehe? Ihr beruft euch auf euer Ordinationsgelübde und begründet damit, dass ihr die Beschlüsse eurer Kirchenleitungen gegebenenfalls nicht anerkennen könntet. Ich anerkenne diese Beschlüsse in meiner Treue zum selben Ordinationsgelübde. Bin ich jetzt weniger treu? Bin ich weniger bei der Wahrheit? Bin ich Christus weniger gehorsam? Wie seht ihr mich? Was bedeutet es für euch, dass wir in derselben Kirchengemeinschaft oder gar in derselben Landeskirche dasselbe Amt als Gemeindepfarrer versehen?

Ich muss das in diesen Fragen ausdrücken, weil ich sonst meine Wut nicht im Zaum halten könnte. Weil ich sonst nicht verschweigen könnte, wie sehr mich euer Text verletzt. Weil es so ein Affront ist gegenüber all euren Kolleginnen und Kollegen, die nach ehrlichem Ringen und Durchdringen des Für und Wider zu einem anderen Schluss gekommen sind, als ihr und in Treue zum mehrfachen Liebesgebot Jesu Christi den Segen für gleichgeschlechtlich Liebende zu spenden bereit sind. Ihr beruft euch auf euer Gewissen und werdet euch weigern, jemals selber eine solche Segnung durchzuführen. Aber ihr habt keine Gewissensprobleme, eurer Kirche, die euch Amt und Brot verleiht und euch ausgebildet hat, so respektlos abzukanzeln.

Nun, die Kirche und die Kolleginnen und Kollegen, mich selbst eingeschlossen, werden das überstehen. Mein Heil und vorläufig auch mein Job hängen nicht von eurem Urteil über mich ab. Schlimmer finde ich, was es für die Menschen bedeutet, die eure Verweigerung direkt trifft und darum erst recht tief verletzen muss.

Das christliche Eheverständnis

Ihr versteht die Ehe als Teil, wenn nicht gar als Inbegriff der Schöpfungsordnung. Und ihr beruft euch dabei auf Jesus selbst, der in seiner Antwort an die Pharisäer auf die Frage der Ehescheidung die zwei Genesisstellen zitiert hat. Euch scheint diese Passage entscheidend wichtig zu sein, immerhin stammt der Titel eures Textes von Mt 19. Es geht dort nicht um die Frage der Gleichgeschlechtlichkeit. Es geht um die Unauflöslichkeit der Ehe. Ich frage euch: Wie viele von euch sind geschieden? Keine Angst, ich werde keinen Stein werfen. Er würde mich selbst als erstes treffen.

Man kann gewiss, Mk 10 und Mt 19 folgend, die Ehe im Rahmen der Schöpfungsordnung verstehen. Das ist aber nicht die einzige biblische Ehebegründung. Jesus hat sich dieses eine Mal dazu geäussert, in Kana war er mal an einer Hochzeit eingeladen, ansonsten schien ihm die Ehe kein grosses Thema zu sein. Dass seine Jünger ihre Ehepartner (zumindest zeitweise) verlassen haben, um ihm nachzufolgen, schien kein Problem zu sein. Für Paulus spielte die Ehe eine untergeordnete Rolle. Sie war für ihn eine Art Notlösung, um der Unzucht vorzubeugen. Im Alten Testament gibt es nicht eine einzige real berichtete Ehe, die in einem Zusammenhang mit der Schöpfungsordnung steht. Wenn schon, dann ist der Bund das Modell für die Ehe. Die vom Volk verratene Bundestreue wurde von den Propheten mit der Untreue von Eheleuten verglichen. Die Ehen, die in der Bibel vorkommen, zeugen zudem alle in selbstverständlicher Weise vom patriarchalen damaligen Zeitgeist: Die Frau ist Besitz des Mannes, erst des Vaters, dann des Ehemannes. Das ist der in der Bibel unhinterfragte Mainstream.

Ihr deutet dann auch noch die Ehe (und zwar explizit die zwischen Mann und Frau) auf Christus und seine Kirche. Und dafür habt ihr das volle Gewicht von Eph 5, 31f auf eurer Seite. Die einzige auf dieser Denkgrundlage geschlossene Ehe, von der in der Bibel erzählt wird, ist die in Offb 21 zwischen Christus und Jerusalem. Jerusalem wird dort zwar tatsächlich mit einer geschmückten Braut verglichen, aber das ist eine Metapher. Bei dieser eschatologischen Ehe steht sicher nicht die Weiblichkeit der Stadt (bzw. der Kirche) und die Männlichkeit Christi im Vordergrund. Ich sehe keine Notwendigkeit, gleichgeschlechtlichen Paaren die Gleichnisfähigkeit hinsichtlich der Verbindung von Christus und Kiche abzusprechen. Also ist für mich nicht schlüssig, warum auf der Grundlage von Eph 5 gleichgeschlechtliche Paare von der Ehe ausgeschlossen werden müssten. Es sei denn, man wolle den Teil mit der Unterordnung der Frau unter den Mann aus Eph 5,23f als Begründung anfügen. Denn bei zwei Frauen oder zwei Männern wäre ja dann nicht klar, wer sich wem unterordnen sollte und wer wie Christus das Haupt der Kirche das Haupt des anderen sei. Vielleicht ist tatsächlich das der hauptsächliche Grund eurer Sorge? Nicht die Schöpfungsordnung, sondern die patriarchale hierarchische Ordnung, die durch gleichgeschlechtliche Ehen infrage gestellt werden könnte?

Ein Wort an die Frauen unter euch

Liebe Kolleginnen, die ihr diese Erklärung mitunterzeichnet habt, seid ihr euch bewusst, welche Rolle euch durch die Begründung der Ehe, die ihr anbringt, noch zukommt? Wenn ihr wirklich euer Eheverständnis auf Eph 5 aufbauen wollt, dann solltet ihr konsequenterweise auch die Rolle der Frau entsprechend einnehmen. Wenn ihr die Schrift in dieser strengen Wortwörtlichkeit auslegen wollt, dann solltet ihr auch 1Tim 2, 11-15 beachten und schweigen und Kinder gebären. Ihr seid in einer beinahe erdrückten Minderheit in euren Reihen. Vielleicht gibt es Kollegen bei euch, die tatsächlich insgeheim oder gar offen die Frauenordination infrage stellen. Sie hätten das volle Gewicht von 1Tim 2,11ff, verbunden mit eurer Art, die Bibel auszulegen, auf ihrer Seite. Haben sie auch euch auf ihrer Seite? Oder seid ihr mit Herz und Liebe Pfarrerinnen, die uns Männern in nichts nachstehen und mit vollkommen gleichwertiger Vollmacht dem Wort Gottes in den Gemeinden dienen? Dann sage ich: Gut so. Dann habt doch auch Eier und sagt, dass 1Tim 2, 11ff falsch ist.

Der gefallene Zustand der gesamten Schöpfung

Diesen Abschnitt habt ihr als Teil eures «Christlichen Eheverständnisses» eingefügt, was ich nicht ganz verstehe. Ich gehe hier gesondert darauf ein.

Und ich muss wieder mit aller Kraft meinen Zorn im Zaum halten. Ihr schreibt, dass das Christenleben immer ein Leben in der Spannung zwischen der eigenen Gebrochenheit und dem Hören auf das Wort Gottes sei. Als solches umfasse es nicht nur Erfüllung und Glück, sondern auch Anfechtung und Verzicht. Ich frage euch: Worin genau besteht die Anfechtung, worin der Verzicht? Und wer bestimmt, worauf verzichtet werden soll? Glaubt ihr tatsächlich zu wissen, dass aufgrund der Gefallenheit der Schöpfung gleichgeschlechtlich liebende Menschen auf das Ausleben ihrer Liebe verzichten müssen, und dass ihr diejenigen seid, die jenen und dem Rest der Welt dies zu sagen bevollmächtigt seid? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage euch: Ihr alle seid – wenn schon – mit ein Teil dieser gefallenen Welt. Euer Verstand ist ein gefallener Verstand, euer Herz ist ein gefallenes Herz, euer Urteilsvermögen ist ein gefallenes Urteilsvermögen. Wie könnt ihr so sicher sein, dass eure wie auch immer gewonnene Überzeugung auch wirklich die einzig wahre und für alle gültige ist? Wie könnt ihr wissen, worauf eure Mitmenschen zu verzichten haben? Wie könnt ihr euch zum Gericht darüber erheben, dass heterosexuell Liebenden Erfüllung und Glück und Segen (!) zukommen kann und den Homosexuellen nur Anfechtung und Verzicht bleiben?

Segnen ohne Segenszusage Gottes ist Missbrauch seines Namens

Das Schreibt ihr. Und droht mit der Strafe Gottes. Ihr verdreht die Frohbotschaft in eine Drohbotschaft. Buchstäblich. Statt Segen Strafe. Ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass weit über 100 gescheite, studierte Theologinnen und Theologen allen Ernstes so ein verdrehtes Konzept von Segen teilen. Sprecht ihr den Segen im Gottesdienst? Dafür gibt es aber keine Zusage Gottes. Nur der Hohepriester, angetan mit Priestergewand und Ephod, hat die Vollmacht zu segnen. Jedes Segnen eines kranken oder sterbenden Menschen – denn Krankheit und Tod sind ja Ausdruck der Gefallenheit der Welt und also kann man nicht von deren Vorhandensein auf den dahinterliegenden Willen Gottes schliessen – ist Missbrauch des Wortes Gottes. Jeder Segen, ja überhaupt jede Bemühung um Trost für eine Trauergemeinde ist Missbrauch des Wortes Gottes, denn Jesus hat ja gesagt, die Toten sollen ihre Toten begraben. Ihr findet, dass ich eure Worte bösartig verdrehe? Nun, es fällt mir dummerweise sehr, sehr leicht, in der von euch hier angewendeten Logik weiterzudenken und solche absurden Beispiele zu finden. Absurd, ja. Genauso absurd wie euer Argument.

Das Wächteramt

Die Kirche sei dazu aufgefordert, nach Frieden mit jedermann zu streben, schreibt ihr. Zugegeben, dieses mein Schreiben hier ist nicht gerade ein Friedensangebot. Euer Text aber auch nicht. Bevor Friede einkehren kann, muss gestritten sein. Aber euch geht es dabei ja auch gar nicht um den innerkirchlichen Frieden in der Frage der Ehe für alle, sondern um den Frieden in Staat und Gesellschaft. Und der habe auch Grenzen, sagt ihr, nämlich soll die Kirche ihr Wächteramt wahrnehmen, ja, sie stehe «in der Pflicht», gesellschaftliche Entwicklungen «im Licht der Schrift zu prüfen». Ich verstehe euch richtig, dass ihr meint, die Kirche solle sich gegen die zivilrechtliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zur Wehr setzen, da solches nicht der Schrift entspreche? Wenn das so ist, dann frage ich: Ist es nicht etwas viel Protest gegen etwas, das niemandem etwas wegnimmt oder schadet, und das in der Bibel ein Randthema streift (ihr kennt die etwa 3 Stellen, die einigermassen explizit etwas gegen den gleichgeschlechtlichen Geschlechtsakt sagen)?

Fazit

Ihr habt (wenn ihr denn tatsächlich habt: Chapeau!) meinen langen Text bis hierher gelesen. Es ist mein derzeitiger Beitrag zu einem offenen Diskurs zum Thema Ehe für alle. Ich erwarte nicht, dass dieser Beitrag euch umstimmen wird. Ich erwarte nicht, dass ihr jemals ein gleichgeschlechtliches Paar trauen werdet. Wenn doch die eine oder der andere von euch sich eines Tages aufgrund einer konkreten Anfrage dazu durchringen mag, umso schöner. Die Zukunft ist ein offenes Land. Wir werden aber nicht darum herumkommen, sehr bald über unser gemeinsames Kirchesein zu verhandeln. Ich sehe mich konfrontiert mit weit über 100 Kolleginnen und Kollegen, die unverhüllt mir und dem Grossteil meiner Kolleginnen und Kollegen das Christsein und die Treue zur Schrift absprechen. Wie könnt ihr mit mir zusammen im selben Boot sitzen? Wollt ihr das überhaupt noch? Gerne erwarte ich bald eine glaubwürdige Antwort von euch.

Matthijs van Zwieten de Blom
Pfarrer in Rein (AG)