Von Hass und Meinungsfreiheit

Am 9. Februar wird über den Schutz vor Hass abgestimmt. Offiziell heisst die Vorlage «Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung». Die Gegner der Vorlage sprechen von «Zensurgesetz» und wittern eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. In diesem Blogpost lege ich dar, warum das Gegenteil wahr ist und es gerade im Interesse der Meinungsfreiheit ein Ja zum Schutz vor Hass braucht.

Freiheit, im Speziellen die Meinungsfreiheit, misst sich an der Freiheit der anderen. Anerkenne ich das Recht der anderen, sich genau so frei zu bewegen und zu äussern, der eigenen Identität und was dazu gehört Ausdruck zu verleihen, wie ich? Am 9. Februar geht es konkret um die Frage: gesteht die (abstimmende) Gesellschaft homo- und bisexuellen Menschen zu, ohne Angst und ohne sich zu verstecken, ihrer Liebe Ausdruck zu geben? An Partys zu gehen, und von Partys nach Hause zu gehen, ohne angepöbelt oder verprügelt zu werden? Sich auf offener Strasse die Hand zu halten oder sich im Tram zu küssen, ohne Furcht vor Spott und Schlägen?

Defekt im Hirn

Heute ist es so, dass man offen sagen kann, Schwule hätten einen Defekt im Hirn, und man könne sie durch Schläge heilen. Man darf das sagen und muss nichts befürchten. Genau solche Worte konnte man heute, am 7. Januar 2020, im 20Minuten lesen bzw. im Video auf 20minuten online hören, stolz und selbstbewusst ausgesprochen von einem jungen Mann, der sich noch durch andere Aussagen eindeutig als Schwulenhasser zu erkennen gibt. Ein schwules Paar aber, das zufällig Hand in Hand an diesem jungen Mann und seiner Clique vorbeikäme, müsste Glück haben, ungeschoren nach Hause zu kommen. Solange der junge Mann seine Hände in der Hoodie-Tasche behält, ist er durch die Meinungsfreiheit geschützt. Wenn andere, angestachelt durch seinen Hass, die Tat ausführen, machen sich jene anderen zwar strafbar, er selbst aber bliebe ungeschoren, denn er hat ja nur allgemein seine Meinung geäussert.

Wer die Vorlage zum Schutz vor Hass mit Verweis auf die Meinungsfreiheit bekämpft, pervertiert genau diese Meinungsfreiheit und macht sie zur Freiheit zum Hassen und Hetzen. So behält faktisch nur der Stärkere und Lautere die Freiheit, seine Ansichten dem Rest aufzudrücken. Andersdenkende und Mitmenschen, die nicht den eigenen Lebens- und Liebesweisen entsprechen, werden niedergeschrien und ihrer Freiheitsrechte beraubt.

Zensur? Nein: Freiheit!

Das Verbot der Diskriminierung und des Aufrufs zu Hass und Hetze hat nichts mit Zensur zu tun, aber alles mit der Freiheit, der Mensch zu sein, der du bist. Sei der Mensch, der du bist. Sei es aber so, dass die oder der andere nicht gehindert wird, zu sein, wer sie oder er ist. Wenn das auch deine Ansicht ist, dann stimme am 9. Februar JA zum Schutz vor Hass!

Siehe auch das Video zur Aktion Regenbogen!

Gastbeitrag von Lilian Jost

Lilian Jost hat mir ihre Replik zur Schrift “Habt ihr nicht gelesen” zugestellt und mir erlaubt, ihren Text auf meinem Blog zu publizieren. Ich freue mich zu sehen, dass Lilian – und noch viele andere engagierte, denkende und liebende Menschen – ganz ähnliche Reaktionen zeigen und Schlüsse ziehen beim Lesen gewisser Texte. Herzlichen Dank für diesen frisch formulierten Text!

Der nachstehende Text wurde zuerst im Rahmen der Diskussion um die Ehe für alle auf social Media gepostet, daher die Anrede.

Liebe Pfarrer*innen der Reformierten Landeskirchen der Schweiz

Rund 200 von Euch haben eine Erklärung gegen die „Ehe für alle“ unterzeichnet. Sie trägt den Titel „Habt ihr nicht gelesen…?“. Ihr seid dagegen, dass gleichgeschlechtliche Paare in reformierten Landeskirchen getraut werden. Gerne möchte ich mich dazu äussern.

Ich studiere evangelische Theologie in Heidelberg, komme aus Zürich, wuchs in der Zürcher Landeskirche auf und kann mir gut vorstellen, eines Tages wieder hierher zurückzukommen und als Pfarrerin zu arbeiten. Zusammen mit meiner Partnerin, ebenfalls Theologiestudentin. Die ich eines Tages in Deutschland sowohl standesamtlich als auch kirchlich heiraten darf.

Ich richte mich aber nicht nur an euch 200, sondern auch an meine Freund*innen, sollten sie nun Theologie studieren oder nicht – vor allem an letztere, eigentlich. Ich liebe mein Studium. Theologie ist nice, mega spannend, und, wie wir sehen, aktuell. Ich finde es so frustrierend, dass vor allem meine queeren Freund*innen von der Kirche verschreckt und abgeturnt sind. Ich verstehe das vollkommen. Wäre ich auch, wenn ich mich nicht schon mittendrin befinden würde. Aber mich werden diese 200 Pfarrer*innen und die Leute, die sie repräsentieren, so schnell nicht los. Ich will hier bleiben, in der Kirche, und meinen queeren Shit durchziehen, christlich, jawoll! Ich will euch Queers zeigen, dass es auch noch andere gibt, und dass wir mehr und stärker und bunter sind als die, die uns verurteilen.

Und ich bin wütend auf euch, ihr 200 Pfarrer*innen. Hier ist mein Statement. Ich habe eure Erklärung gelesen und will sie Punkt für Punkt kommentieren.

1. „Ehe für Alle ist ein radikaler Bruch mit der christlich-jüdischen Tradition“. Ist es nicht. Viele Kirchen rund um uns herum haben die Ehe geöffnet und sind nicht im (unbiblischen) Fegefeuer verbrannt. Ausserdem sollte Traditionsbruch in der REFORMierten Kirche kein Argument sein. Wenn ihr für Tradition und feste Brauchtümer seid, dann solltet ihr vielleicht nicht für eine Kirche arbeiten, deren Existenz auf dem Bruch mit Traditionen beruht.

2. „Die Kirche steht nicht über der Schrift“. Zeigt uns mal die Stellen, die lesbische und schwule Liebe verbieten. Habt ihr nicht alle viele Semester lang Theologie studiert, Exegese gelernt? Könnt ihr Perikopen nicht mehr in ihrem Kontext verordnen? Nehmt ihr die gesamte Bibel wörtlich? Und warum haltet ihr euch dann nicht an alle Gebote des Alten Testaments?
Ja, die Ehe für Heteropaare wird im Alten wie im Neuen Testament befürwortet. Natürlich. Die dürft ihr ja auch weiterhin durchführen. Aber wenn ihr euch an sola scriptura halten wollt, dann verbietet auch nichts, was die Schrift nicht verbietet.
(BTW: Diejenigen, die „nur tun, was Jesus gebietet, und nichts tun, was Jesus nicht erwähnt“ sind jene Splittergruppen, die sich von der Schweizer Reformation abgespalten haben. Das ist keine reformierte Position. Jesus erwähnt auch keine Weihnachtsbäume, keine Osterhasen, er sagt nie, dass man sich die Zähne putzen oder lachen soll. Aber so natürlich und selbstverständlich wie Zähne putzen oder lachen oder all die tausend anderen Dinge, die Jesus und seine Zeitgenoss*innen niemals erwähnen, ist meine Liebe zu meiner Freundin, diese queere, homosexuelle Liebe.)

3. „Gesellschaftlicher Mainstream wird nicht hinterfragt“. Das hier ist nicht einfach Mainstream. Dass wir uns überhaupt in dieser Lage befinden, wo ENDLICH einmal FAST die Hälfte der Bevölkerung hinter uns steht, ist das Ergebnis jahrzehntelanger – jahrhundeterlanger – Kämpfe, Abmühungen und Aufopferungen. Wir sind hier nicht einfach im Mainstream. Wir Queers und unsere Vorfahr*innen haben der Gesellschaft gezeigt, dass wir richtige, gute Menschen sind, die Gleichberechtigung und komplette Akzeptanz verdient haben. Mainstream. Das ist lächerlich.

4. „So gibt es keine theologische Diskussion mehr“. Leute. Ich LIEBE theologische Diskussion. Ich mache tagein, tagaus wenig anderes. Ich wünschte, viel mehr Menschen würden sich mit theologischen Themen auseinandersetzen! Austausch ist famos! Mehr davon! Aber. Die christliche Trauung verdient eine solche Auseinandersetzung nicht. Sie ist, wenn man sich denn einmal tatsächlich mit ihr auseinandersetzen würde, nicht diskussionswürdig. Ihr habt doch alle Kirchengeschichte studiert, oder? Dann wisst ihr, dass die Ehe seit der Reformation kein Sakrament mehr ist. Sie ist der *Segenszuspruch* von Gott, der sonst keine weiteren Konsequenzen hat. Und Segen benötigen und verdienen wir alle.

Luther schrieb in seinem „Traubüchlein“ von 1529 (ein Traktat, in dem er die Bedeutung und Durchführung der protestantischen Trauung erklärt, zitiert aus: Albrecht, Christian: Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006): „Die aus Trauung, Gebet und Segen bestehende kirchliche Handlung ist eine vom Paar freiwillig begehrte Handlung, mit der das Paar zwar anzeigt, dass es die Ehe als eine von Gott geschlossene Handlung ansieht, sie ist aber zur Gültigkeit der Ehe, die auch vor der weltlichen Obrigkeit geschlossen werden kann, nicht notwendig. [Drittens,] wo eine Trauung begehrt wird, da ist sie auch zu gewähren: „So man von uns begehrt, vor der Kirche oder in der Kirche sie [sic: die Brautleute] zu segnen, über sie zu beten oder sie auch zu trauen, sind wir schuldig, dasselbe zu tun.““

Hoppla. Als Grund für die Durchführung einer kirchlichen Trauung reicht also, dass die Brautleute (super Wort, nicht gegendert) das WOLLEN?! Sie ist die Bestätigung vor Gott, die das Paar freiwillig begehrt?! Der einzige ersichtliche Knackpunkt hier ist die weltliche Ehe, die unsere langsame Demokratie immer noch nicht gebacken bekommen hat. Aber 1) allerspätestens dann gibt es in der reformierten Kirche, die schon immer eng mit der „weltlichen Obrigkeit“ zusammengearbeitet hat, keinen Grund mehr, den Brautleuten die Trauung zu verweigern, und 2) darf die Kirche auch mal schneller sein als der Staat. Weil, ähem, die Reformation ist passiert. Schweizer Kirchen und die Menschen, die sie repräsentieren, war mal ganz besonders fortschrittlich. Also, so ziemlich die fortschrittlichsten in der gesamten Christenheitsgeschichte, bis dato.

Kleiner Zusatz: Die Matthäusstelle, die ihr als Grundlage für euer Eheverständnis zitiert (Mt 19,4-6: „Er aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie am Anfang schuf als Mann und Frau und sprach (1. Mose 2,24): »Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein«? So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch.“) ist ja schön und gut. Aber ein kleines Detail lasst ihr aus: Vers 6 ist nur bis zur Hälfte zitiert. Der Rest des Satzes lautet: „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden!“

Ups. Der Kontext ist nämlich die Frage der Pharisäer, wie Jesus zur Scheidung steht. Und er sagt: Scheidung ist schlecht.
Moment, die reformierte Kirche ist aber gar nicht gegen die Ehescheidung, oder? Ah, verstehe, da ist die Kirche mit dem „gesellschaftlichen Mainstream“ mitgegangen. Und versteht die Ehe auch nicht als Sakrament. Mhm. Alles klar – Bibel zitieren ist okay, aber Teilverse und Kontexte weglassen auch, sofern es der eigenen Legitimation dient. Merci, jetzt kann ich beruhigt Theologie weiterstudieren.

Ich möchte folgendes noch einmal betonen: Ja, die frühen Christen und ihre Autor*innen haben die Ehe als einen Bund zwischen Mann und Frau verstanden. Sie lebten im Hellenismus, geprägt von römischer und griechischer Kultur, und das war da halt der gesellschaftliche Mainstream. Das heisst nicht, dass es keine schwulen Männer, lesbischen Frauen, keine Transmenschen gab. Aber die waren in einer militärisch-antiken Kultur wie dieser halt nicht an der Tagesordnung. Es gab auch keine Menschenrechtserklärung oder Antirassismusgesetze im antiken Griechenland.
Aber: nirgends in der gesamten Bibel wird die Liebe zwischen zwei Männern verboten. Da gibt es eine Passage über die schandhafte Vergewaltigung zwischen mehreren Männern, aber Vergewaltigung finden wir glaubs immer noch scheisse. Und zwei Frauen, haha, werden sowieso nie erwähnt. Das konnten sich die Leute damals wahrscheinlich nicht mal vorstellen. Liebe oder Sex zwischen zwei Frauen ist nirgends explizit erwähnt. Und doch gibt es uns, damals und heute. Und nur, weil die uns damals nicht genug auf dem Schirm hatten, um uns in die Illegalität zu treiben, heisst das nicht, dass man uns heute unsere Rechte vorenthalten muss.

Liebe Unterzeichnende der Erklärung,
mit so einer Kirchenpolitik schiesst ihr euch selber in euer humpelndes Bein. Die Kirche ist nicht mehr die grosse Macht, die sie einmal war. Junge Menschen wenden sich ohnehin seit Jahren von ihr ab. Und mit so einem Gugus vertreibt ihr sie / uns noch mehr. Wie gesagt, ich werde bleiben, und hoffe, anderen zeigen zu können, dass Kirche auch anders kann. Ein grosses Ziel, für das wir viel Unterstützung brauchen können. Aber Gott hat uns gemacht, wie wir sind, und er liebt uns genau so. Denn in Genesis 1,31 steht geschrieben: „Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“

Ich habe wohl gelesen!

Replik an die Unterzeichnenden der Erklärung
Habt ihr nicht gelesen…? – Erklärung zur “Ehe für alle” in der Kirche
vom Oktober 2019, siehe Link.
Die Zwischentitel orientieren sich an der Gliederung des Dokuments, auf das ich mich hier beziehe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Ihr beabsichtigt einen «offenen Diskurs innerhalb der Kirche im Bestreben um Einheit.» Den offenen Diskurs könnt ihr, was mich angeht, haben. Das mit der Einheit sehe ich gerade von eurer Seite infrage gestellt. Solange aber noch gerungen und gestritten wird, gibt es die Hoffnung, dass ein gemeinsames Unterwegssein als Kirche weiterhin möglich ist. Versteht meinen Text als Beitrag in diesem von euch beabsichtigten Diskurs.

Ihr schreibt, dass ihr bereit seid, euch durch das Zeugnis der Heiligen Schrift und durch Gründe der Vernunft korrigieren zu lassen. Ich stelle mich nicht auf den Standpunkt, das Subjekt irgendeiner Korrekturwirkung an euch sein zu können. Ich stehe an derselben Seite der Offenbarung (nämlich auf der empfangenden), und um die Vernunft muss ich mich bemühen wie ihr. Die Einsicht muss in jedem selbst erwachsen, und die Korrektur an der eigenen Haltung hat jeder selbst zu verantworten.

Ich will also nicht euch korrigieren, wohl aber will hier schreiben, was ich anders sehe als ihr. Ich will das mit meinem Blick auf die Heilige Schrift tun, und ich bemühe mich um eine vernunftbasierte Argumentation. Ich kann aber nicht versprechen, dass es nicht auch emotional wird. Ich bin ein menschliches Geschöpf, und es geht hier um eine Sache, die mich als Mensch sehr unmittelbar angeht. Es geht um die Liebe, es geht um Sex und es geht um den Glauben an Christus. Da kann es schon mal leidenschaftlich werden. Gehen wir’s an.

Radikaler Bruch

Ihr seht im Vorschlag des SEK-Rates und verschiedener kantonalkirchlicher Exekutivbehörden einen «radikalen Bruch mit der jüdisch-christlichen Tradition und der Gemeinschaft aller Konfessionen zu allen Zeiten und an allen Orten». Ich sehe keinen Bruch. Ich sehe die Frucht eines langen Lernweges, auf dem wir uns als christliche Kirche seit den Anfängen immer befunden haben. Und wenn wir ernsthaft die jüdische Tradition in unser Denken und Glauben miteinbeziehen wollen, dann könnte sich das gerade in einer ausgeprägten Kultur des Lernens manifestieren. Wir (bzw. die von euch kritisierten Verantwortlichen in den Kirchenleitungen) haben gelernt, dass es falsch war, wie die Kirche in der Vergangenheit mit nicht-normativ-heterosexuell liebenden Menschen umgegangen ist. Und in der festen Überzeugung (meine feste Überzeugung ist es jedenfalls), dass Jesus seine Liebe und Zuwendung nicht von der sexuellen Orientierung abhängig macht, verweigern wir den Liebenden nicht länger den Segen, um den sie bitten.

Kirche nicht über der Schrift

Ihr seht offenbar in der Öffnung der Trauung für nicht-heterosexuelle Norm-Paare einen Entscheid, der nicht auf der Grundlage der Heiligen Schrift gemacht wurde. Und ihr seht darum das Existenzrecht – ihr sagt «Legitimation» – der Kirche als verloren. Dagegen halte ich fest: Die Legitimation der Kirche beruht nicht auf den Beschlüssen ihrer Leitung, sondern auf der Gnade, auf der Berufung und auf der Mission Jesu Christi. Und er, Jesus Christus, das lebendige Wort Gottes, ist es auch, dem die Kirche zu folgen hat. Das Hören auf Gottes Wort ist ein fortwährender Interpretations- und (schon wieder) Lernprozess. Wir sind berufen, um frei zu entscheiden und diese Entscheidungen vor uns selbst, vor den Menschen – insbesondere, wenn wir bestimmte Ämter ausüben – und vor Gott zu verantworten. Wir können diese Freiheit leugnen und uns vor der Verantwortung drücken und uns bequem hinter irgendwelchen Buchstaben der Bibel verkriechen und das als besondere Gottestreue deklarieren. Dann werden die Menschen draussen vor der Buchstabentür geistlich verhungern wie der Arme Lazarus vor den Toren des Reichen Mannes. Die Teenager, die gerade mit ihrer erwachenden homosexuellen Orientierung klarkommen müssen, bleiben ohne Beistand, der ihnen Hoffnung auf ein erfülltes Leben machen würde. Die Erwachsenen, die eine Partnerin fürs Leben gefunden haben und nach allen bisherigen Ablehnungserfahrungen von der Kirche trotz allem aus tiefstem Herzen ersehnen, ihre in gegenseitiger Fürsorge und Verantwortung eingegangene Verbindung nun auch auf den Boden der christlichen Versöhnungskraft und unter den Segen Gottes zu stellen, werden einmal mehr von der Kirche enttäuscht. All diese Menschen rennen an und prallen von der druckerschwarzen Türe ab und zerschellen auf dem Pflaster der unmöglich erfüllbaren Gebote. Ihr aber feiert euer Mahl der Einigkeit auf eurer Seite der Mauer. Ihr Und haltet triumphierend die Heilige Schrift hoch und stellt euch ergebenst darunter. Ihr seht nicht die, die draussen sind unter eurem Schirm der Rechtgläubigkeit keinen Platz mehr finden. Euch kümmern die da draussen nicht. Hauptsache eure Kirche bleibt sauber unter ihrer reinen Schrift.

Gesellschaftlicher Mainstream wird nicht hinterfragt

Das ist Unsinn, ein Strohmann-Argument. Weil die Kirche gleichzeitig wie grosse Teile der Gesellschaft eine Wahrheit erkannt hat, meint ihr, die Kirche als Fähnchen im Wind darstellen zu können, das ständig dem Mainstream-Lüftchen hinterherdreht. Damit werdet ihr der Realität nicht gerecht. Geht doch mal auf die Website des SEK und schaut euch um, was es da für kritische und theologisch wohlbegründete Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Themen in den vergangenen Jahrzehnten gab. Richtig ist, dass sich die Kirche mit den Themen der Zeit auseinandersetzt, mit der Lebenswirklichkeit der Menschen, mit der Welt. Diese Welt ist der Ort, an dem und in den hinein die Interpretation der biblischen Schriften geschieht. Natürlich wird diese Welt und alle, die in ihr leben, durch das in der Bibel bezeugte Gericht radikal infrage gestellt. Genauso gilt, dass wir in dieser Welt und in der jetzigen vorletzten Zeit in der Hoffnung leben können, dass die durch Christus errungene Herrschaft des neuen Äons schon zu uns herüberreicht, dass wir getrost und vertrauensvoll unseren Weg im Vorläufigen freudig und zuversichtlich gehen können.

Keine Theologischen Diskussion mehr

Es mag sein, dass es Vertreterinnen und Vertreter der Kirche gibt, die nicht (mehr) über von ihnen längst durchgekaute und wieder- und wiedergekäute Themen diskutieren mögen und mit einer vielleicht vorschnellen Selbstverständlichkeit zur längst fälligen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare schreiten wollen. Es scheint nötig zu sein, doch noch vertiefter zu debattieren. Ich bin dazu bereit. Ich stelle mich. Ich habe zwar kein kirchenleitendes Amt inne, ich bin nur primus inter pares im Aargauer Pfarrkapitel. Aber ich bin Kollege, ich habe dasselbe Ordinationsgelübde abgelegt wie ihr (zumindest wie die Zürcherinnen und Zürcher unter euch), ich bin Teil derselben Kirchengemeinschaft wie ihr. Also muss gestritten sein. Was ich auch mit diesem Text hier tue.

Auf das Ordinationsgelübde beruft ihr euch explizit, wenn ihr eure Forderungen stellt. Was heisst das nun, liebe Kolleginnen und Kollegen? Was heisst es, dass ich wie ihr dasselbe Gelübde abgelegt habe, dass ich wie ihr nach bestem Wissen und Gewissen meinen Dienst am Wort Gottes aufgrund der Heiligen Schrift und im Geist der Reformation, sowie im Gehorsam gegen Jesus Christus versehe? Ihr beruft euch auf euer Ordinationsgelübde und begründet damit, dass ihr die Beschlüsse eurer Kirchenleitungen gegebenenfalls nicht anerkennen könntet. Ich anerkenne diese Beschlüsse in meiner Treue zum selben Ordinationsgelübde. Bin ich jetzt weniger treu? Bin ich weniger bei der Wahrheit? Bin ich Christus weniger gehorsam? Wie seht ihr mich? Was bedeutet es für euch, dass wir in derselben Kirchengemeinschaft oder gar in derselben Landeskirche dasselbe Amt als Gemeindepfarrer versehen?

Ich muss das in diesen Fragen ausdrücken, weil ich sonst meine Wut nicht im Zaum halten könnte. Weil ich sonst nicht verschweigen könnte, wie sehr mich euer Text verletzt. Weil es so ein Affront ist gegenüber all euren Kolleginnen und Kollegen, die nach ehrlichem Ringen und Durchdringen des Für und Wider zu einem anderen Schluss gekommen sind, als ihr und in Treue zum mehrfachen Liebesgebot Jesu Christi den Segen für gleichgeschlechtlich Liebende zu spenden bereit sind. Ihr beruft euch auf euer Gewissen und werdet euch weigern, jemals selber eine solche Segnung durchzuführen. Aber ihr habt keine Gewissensprobleme, eurer Kirche, die euch Amt und Brot verleiht und euch ausgebildet hat, so respektlos abzukanzeln.

Nun, die Kirche und die Kolleginnen und Kollegen, mich selbst eingeschlossen, werden das überstehen. Mein Heil und vorläufig auch mein Job hängen nicht von eurem Urteil über mich ab. Schlimmer finde ich, was es für die Menschen bedeutet, die eure Verweigerung direkt trifft und darum erst recht tief verletzen muss.

Das christliche Eheverständnis

Ihr versteht die Ehe als Teil, wenn nicht gar als Inbegriff der Schöpfungsordnung. Und ihr beruft euch dabei auf Jesus selbst, der in seiner Antwort an die Pharisäer auf die Frage der Ehescheidung die zwei Genesisstellen zitiert hat. Euch scheint diese Passage entscheidend wichtig zu sein, immerhin stammt der Titel eures Textes von Mt 19. Es geht dort nicht um die Frage der Gleichgeschlechtlichkeit. Es geht um die Unauflöslichkeit der Ehe. Ich frage euch: Wie viele von euch sind geschieden? Keine Angst, ich werde keinen Stein werfen. Er würde mich selbst als erstes treffen.

Man kann gewiss, Mk 10 und Mt 19 folgend, die Ehe im Rahmen der Schöpfungsordnung verstehen. Das ist aber nicht die einzige biblische Ehebegründung. Jesus hat sich dieses eine Mal dazu geäussert, in Kana war er mal an einer Hochzeit eingeladen, ansonsten schien ihm die Ehe kein grosses Thema zu sein. Dass seine Jünger ihre Ehepartner (zumindest zeitweise) verlassen haben, um ihm nachzufolgen, schien kein Problem zu sein. Für Paulus spielte die Ehe eine untergeordnete Rolle. Sie war für ihn eine Art Notlösung, um der Unzucht vorzubeugen. Im Alten Testament gibt es nicht eine einzige real berichtete Ehe, die in einem Zusammenhang mit der Schöpfungsordnung steht. Wenn schon, dann ist der Bund das Modell für die Ehe. Die vom Volk verratene Bundestreue wurde von den Propheten mit der Untreue von Eheleuten verglichen. Die Ehen, die in der Bibel vorkommen, zeugen zudem alle in selbstverständlicher Weise vom patriarchalen damaligen Zeitgeist: Die Frau ist Besitz des Mannes, erst des Vaters, dann des Ehemannes. Das ist der in der Bibel unhinterfragte Mainstream.

Ihr deutet dann auch noch die Ehe (und zwar explizit die zwischen Mann und Frau) auf Christus und seine Kirche. Und dafür habt ihr das volle Gewicht von Eph 5, 31f auf eurer Seite. Die einzige auf dieser Denkgrundlage geschlossene Ehe, von der in der Bibel erzählt wird, ist die in Offb 21 zwischen Christus und Jerusalem. Jerusalem wird dort zwar tatsächlich mit einer geschmückten Braut verglichen, aber das ist eine Metapher. Bei dieser eschatologischen Ehe steht sicher nicht die Weiblichkeit der Stadt (bzw. der Kirche) und die Männlichkeit Christi im Vordergrund. Ich sehe keine Notwendigkeit, gleichgeschlechtlichen Paaren die Gleichnisfähigkeit hinsichtlich der Verbindung von Christus und Kiche abzusprechen. Also ist für mich nicht schlüssig, warum auf der Grundlage von Eph 5 gleichgeschlechtliche Paare von der Ehe ausgeschlossen werden müssten. Es sei denn, man wolle den Teil mit der Unterordnung der Frau unter den Mann aus Eph 5,23f als Begründung anfügen. Denn bei zwei Frauen oder zwei Männern wäre ja dann nicht klar, wer sich wem unterordnen sollte und wer wie Christus das Haupt der Kirche das Haupt des anderen sei. Vielleicht ist tatsächlich das der hauptsächliche Grund eurer Sorge? Nicht die Schöpfungsordnung, sondern die patriarchale hierarchische Ordnung, die durch gleichgeschlechtliche Ehen infrage gestellt werden könnte?

Ein Wort an die Frauen unter euch

Liebe Kolleginnen, die ihr diese Erklärung mitunterzeichnet habt, seid ihr euch bewusst, welche Rolle euch durch die Begründung der Ehe, die ihr anbringt, noch zukommt? Wenn ihr wirklich euer Eheverständnis auf Eph 5 aufbauen wollt, dann solltet ihr konsequenterweise auch die Rolle der Frau entsprechend einnehmen. Wenn ihr die Schrift in dieser strengen Wortwörtlichkeit auslegen wollt, dann solltet ihr auch 1Tim 2, 11-15 beachten und schweigen und Kinder gebären. Ihr seid in einer beinahe erdrückten Minderheit in euren Reihen. Vielleicht gibt es Kollegen bei euch, die tatsächlich insgeheim oder gar offen die Frauenordination infrage stellen. Sie hätten das volle Gewicht von 1Tim 2,11ff, verbunden mit eurer Art, die Bibel auszulegen, auf ihrer Seite. Haben sie auch euch auf ihrer Seite? Oder seid ihr mit Herz und Liebe Pfarrerinnen, die uns Männern in nichts nachstehen und mit vollkommen gleichwertiger Vollmacht dem Wort Gottes in den Gemeinden dienen? Dann sage ich: Gut so. Dann habt doch auch Eier und sagt, dass 1Tim 2, 11ff falsch ist.

Der gefallene Zustand der gesamten Schöpfung

Diesen Abschnitt habt ihr als Teil eures «Christlichen Eheverständnisses» eingefügt, was ich nicht ganz verstehe. Ich gehe hier gesondert darauf ein.

Und ich muss wieder mit aller Kraft meinen Zorn im Zaum halten. Ihr schreibt, dass das Christenleben immer ein Leben in der Spannung zwischen der eigenen Gebrochenheit und dem Hören auf das Wort Gottes sei. Als solches umfasse es nicht nur Erfüllung und Glück, sondern auch Anfechtung und Verzicht. Ich frage euch: Worin genau besteht die Anfechtung, worin der Verzicht? Und wer bestimmt, worauf verzichtet werden soll? Glaubt ihr tatsächlich zu wissen, dass aufgrund der Gefallenheit der Schöpfung gleichgeschlechtlich liebende Menschen auf das Ausleben ihrer Liebe verzichten müssen, und dass ihr diejenigen seid, die jenen und dem Rest der Welt dies zu sagen bevollmächtigt seid? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage euch: Ihr alle seid – wenn schon – mit ein Teil dieser gefallenen Welt. Euer Verstand ist ein gefallener Verstand, euer Herz ist ein gefallenes Herz, euer Urteilsvermögen ist ein gefallenes Urteilsvermögen. Wie könnt ihr so sicher sein, dass eure wie auch immer gewonnene Überzeugung auch wirklich die einzig wahre und für alle gültige ist? Wie könnt ihr wissen, worauf eure Mitmenschen zu verzichten haben? Wie könnt ihr euch zum Gericht darüber erheben, dass heterosexuell Liebenden Erfüllung und Glück und Segen (!) zukommen kann und den Homosexuellen nur Anfechtung und Verzicht bleiben?

Segnen ohne Segenszusage Gottes ist Missbrauch seines Namens

Das Schreibt ihr. Und droht mit der Strafe Gottes. Ihr verdreht die Frohbotschaft in eine Drohbotschaft. Buchstäblich. Statt Segen Strafe. Ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass weit über 100 gescheite, studierte Theologinnen und Theologen allen Ernstes so ein verdrehtes Konzept von Segen teilen. Sprecht ihr den Segen im Gottesdienst? Dafür gibt es aber keine Zusage Gottes. Nur der Hohepriester, angetan mit Priestergewand und Ephod, hat die Vollmacht zu segnen. Jedes Segnen eines kranken oder sterbenden Menschen – denn Krankheit und Tod sind ja Ausdruck der Gefallenheit der Welt und also kann man nicht von deren Vorhandensein auf den dahinterliegenden Willen Gottes schliessen – ist Missbrauch des Wortes Gottes. Jeder Segen, ja überhaupt jede Bemühung um Trost für eine Trauergemeinde ist Missbrauch des Wortes Gottes, denn Jesus hat ja gesagt, die Toten sollen ihre Toten begraben. Ihr findet, dass ich eure Worte bösartig verdrehe? Nun, es fällt mir dummerweise sehr, sehr leicht, in der von euch hier angewendeten Logik weiterzudenken und solche absurden Beispiele zu finden. Absurd, ja. Genauso absurd wie euer Argument.

Das Wächteramt

Die Kirche sei dazu aufgefordert, nach Frieden mit jedermann zu streben, schreibt ihr. Zugegeben, dieses mein Schreiben hier ist nicht gerade ein Friedensangebot. Euer Text aber auch nicht. Bevor Friede einkehren kann, muss gestritten sein. Aber euch geht es dabei ja auch gar nicht um den innerkirchlichen Frieden in der Frage der Ehe für alle, sondern um den Frieden in Staat und Gesellschaft. Und der habe auch Grenzen, sagt ihr, nämlich soll die Kirche ihr Wächteramt wahrnehmen, ja, sie stehe «in der Pflicht», gesellschaftliche Entwicklungen «im Licht der Schrift zu prüfen». Ich verstehe euch richtig, dass ihr meint, die Kirche solle sich gegen die zivilrechtliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zur Wehr setzen, da solches nicht der Schrift entspreche? Wenn das so ist, dann frage ich: Ist es nicht etwas viel Protest gegen etwas, das niemandem etwas wegnimmt oder schadet, und das in der Bibel ein Randthema streift (ihr kennt die etwa 3 Stellen, die einigermassen explizit etwas gegen den gleichgeschlechtlichen Geschlechtsakt sagen)?

Fazit

Ihr habt (wenn ihr denn tatsächlich habt: Chapeau!) meinen langen Text bis hierher gelesen. Es ist mein derzeitiger Beitrag zu einem offenen Diskurs zum Thema Ehe für alle. Ich erwarte nicht, dass dieser Beitrag euch umstimmen wird. Ich erwarte nicht, dass ihr jemals ein gleichgeschlechtliches Paar trauen werdet. Wenn doch die eine oder der andere von euch sich eines Tages aufgrund einer konkreten Anfrage dazu durchringen mag, umso schöner. Die Zukunft ist ein offenes Land. Wir werden aber nicht darum herumkommen, sehr bald über unser gemeinsames Kirchesein zu verhandeln. Ich sehe mich konfrontiert mit weit über 100 Kolleginnen und Kollegen, die unverhüllt mir und dem Grossteil meiner Kolleginnen und Kollegen das Christsein und die Treue zur Schrift absprechen. Wie könnt ihr mit mir zusammen im selben Boot sitzen? Wollt ihr das überhaupt noch? Gerne erwarte ich bald eine glaubwürdige Antwort von euch.

Matthijs van Zwieten de Blom
Pfarrer in Rein (AG)