Offener Brief an die Autoren der Erklärung “Gemeinsam für das Evangelium”

Die Quelle, auf die sich dieser Text bezieht, findet sich unter folgendem Link:
https://dasevangelium.net/ Dort sind auch die sechs Autoren aufgeführt, die ich hier direkt anspreche.

Im Oktober 2022

Sehr geehrte Herren

Vor wenigen Tagen wurde ich durch einen Artikel auf IDEA.de auf Ihre Initiative „Gemeinsam für das Evangelium“ und Ihre entsprechende Erklärung aufmerksam. Ich fühle mich von Ihrer Erklärung angesprochen und angegriffen. Ich sehe mich zu einer Reaktion genötigt. Meine Replik stelle ich Ihnen über Ihre Plattform „Gemeinsam für das Evangelium“ zu, und ich mache meinen Text auf zweifelsfreiheit.net, Facebook und evtl. YouTube öffentlich zugänglich.

Ich bin ein Christenmensch, der ein Theologe und Pfarrer ist, in erster Linie aber ein Mensch unter Menschen. Ich bin getauft, weiss mich von Gott bedingungslos angenommen und heilsam berührt von seiner Liebe. Ich sehe mich herausgefordert durch Christi Ruf in die Nachfolge, der sich gleichermassen an den Einzelnen und an die Gemeinde richtet. Ich bin inspiriert durch das Vorbild Jesus Christus und den Geist Gottes. Ich ringe um das rechte Verstehen des überlieferten Zeugnisses, nämlich der Bibel, die von der Gemeinde als Heilige Schrift erkannt und weitergegeben wurde. Ich suche als Mensch unter Menschen, als Christ in der Gemeinschaft des Leibes Christi, nach dem Weg durch den Irrgarten, als der sich das Leben oft zeigt, immer wieder Entscheidungen treffend, irrend, fallend, wieder aufstehend und weitersuchend, fragend, prüfend, liebend, zweifelnd, hoffend, manchmal vertrauend, immer gehalten von der Hand Gottes, der seine Schöpfung und alle seine Geschöpfe kennt und liebt und heimführt.

Man könnte mich fragen, warum ich mir die Zeit nehme und die Mühe mache, mich mit Ihrer Erklärung so eingehend auseinanderzusetzen. Warum nicht einfach ignorieren und fröhlich weiterleben, weiterglauben, weiterfeiern, denn Gott ist barmherzig, mit mir wie mit jenen, und das genügt doch. Viele tun das so und sind zufrieden. Ich kann das nicht. Ich kann nicht zufrieden sein, wenn Geschwister im Glauben sich anmassen, besser zu wissen, was Gott denkt und sagt und will, als andere, und ein entsprechendes Urteil über jene anderen aussprechen. Ja, ich fühle mich – wie eingangs geschrieben – angesprochen von Ihrer Erklärung, ich fühle mich angegriffen, ich kann dazu nicht schweigen, ich muss widersprechen. Weil mir die Sache so wichtig ist, nämlich das Evangelium, um das es in der Erklärung geht und das auch mein Grund des Glaubens und der Hoffnung ist. Ich teile mit Ihnen, den Autoren der Erklärung, die Überzeugung, dass die christliche Gemeinde auf der Basis des Evangeliums lebt und nur leben kann, wenn sie Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferweckten, als Anfang, Mitte und Ende erkennt und bekennt und sich an Ihm orientiert. Ohne Christus als Mitte, kann eine Gemeinschaft nicht Gemeinde Christi sein. Ich bin ausserdem der Überzeugung, dass kein Mensch sich selbst oder einen anderen Menschen zum Glied am Leib Christi machen kann (in diesem Punkt darf man mir gar eine gewisse Nähe zum Calvinismus attestieren). Es ist Christus allein, der seine Gemeinde erwählt.

Nun höre ich Ihren eindringlichen „Weckruf“, der eine im Evangelium begründete geistliche Erneuerung anmahnt. Ich höre, dass es Ihnen offenbar sehr ernst ist, dass Sie in Sorge sind. Es scheint in jüngerer Zeit etwas vorgefallen zu sein, das Sie derart beunruhigt hat, dass Sie sich zu Ihrer Aktion genötigt sahen. Was konkret dieses Ereignis oder diese Entwicklung ist, wird aus Ihrem Text nicht klar. Wer konkret angesprochen wird, bleibt ebenfalls unausgesprochen. Nur zwischen den Zeilen kann man das eine oder andere herauslesen, oder man kann Ihre Namen googlen und nachlesen, was Sie andernorts geschrieben und gesprochen haben, und daraus Rückschlüsse ziehen – das alles aber bleibt in einem Stand der Spekulation. Ich stütze mich nicht auf solche Spekulationen. Ich beziehe mich im Folgenden strikt auf den Text Ihrer Erklärung.

Sie schreiben:

Wir verfolgen mit dieser Erklärung keineswegs das Ziel, christliche Gemeinde zu spalten oder neue Bewegungen und Organisationen zu gründen.

Ich bin bereit zu glauben, dass Sie nicht spalten wollen. Aber die Wirkung Ihrer Erklärung ist eine ab- und ausgrenzende. Der Ton und die Struktur Ihres Textes zielen darauf ab, Grenzlinien aufleuchten zu lassen. Sie formulieren klar und deutlich, was Sie glauben. Sie erheben den Anspruch, dass das, was sie hier als Glaubenssätze formulieren, wahr sei, unhinterfragbar und unverzichtbar für den christlichen Glauben und die Einheit der Christen. Sie formulieren nicht nur positiv, was Sie als die Wahrheit ansehen, Sie formulieren auch, was für Meinungen und Überzeugungen Sie ablehnen und verwerfen, im Stile der „Anathema“ in den altkirchlichen Konzilsbeschlüssen. Ich halte es für zweifelhaft, dass diese Form zu einer Verständigung unter den verschiedenen christlichen Strömungen und Bewegungen beitragen kann. Der vorliegende Text ist apodiktisch, es gibt nur ein „Vogel friss oder stirb“. Es wird eine Linie gezogen, eine scharfe Grenze, ein hartes „Wahr“ gegen „Falsch“, ohne Möglichkeit für Grautöne oder gar Farben. Es gibt keine Offenheit für Vergebung und Versöhnung. Ich sehe keinen Anhaltspunkt, dass Sie Andersdenkende ernstnehmen, zu verstehen versuchen oder ihnen überhaupt nur mal zuhören würden. Sie wissen, was die Wahrheit ist. Sie haben die Antwort und lassen keine Fragen zu.

Ausser der Struktur gibt es einzelne Aussagen im Text, die diese Ausgrenzungstendenz noch verstärken. Ich greife zwei Sätze aus dem Einleitungsteil heraus. Der erste Satz lautet:

Die folgende Erklärung ist eine Antwort auf die fortschreitende Aushöhlung des Evangeliums, die wir inzwischen selbst innerhalb der evangelikalen Bewegung wahrnehmen.

Ist das vielleicht eine Antwort auf die Frage, an wen Sie sich mit Ihrer Erklärung richten? Sehen Sie hier eine vorwiegend innerevangelikale Angelegenheit? Und wenn dem so sei: was ist dann mit dem ganzen grossen Rest des Leibes Christi? Haben Sie den eh schon längst aufgegeben, sehen Sie die nicht evangelikalen Geschwister im Herrn gar nicht mehr als solche an? Mir bedeutet es alles, glauben zu dürfen, dass ich zu Jesus Christus gehöre. Es würde mich tief treffen, wenn diese meine Gewissheit von Glaubensbrüdern angezweifelt und ich selbst ausgegrenzt würde.

Apropos Glaubensbrüder: Mir ist aufgefallen, dass nicht nur die sechs Autoren ausschliesslich Männer sind. Unter den 63 Erstunterzeichnenden finden sich 62 Männer und eine einzige Frau. Das sieht für mich nicht besonders einladend aus für mindestens die Hälfte der christlichen Gemeinschaft.

Der zweite Satz, auf den ich reagieren möchte, lautet:

Wir wollen zur Besinnung rufen und zur Umkehr von falschen Wegen. Wir bitten Christen, aber auch christliche Gemeinden und Organisationen, mit Hilfe der Erklärung und auf Grundlage der Bibel ihren Weg zu prüfen und, wenn nötig, zum biblischen Evangelium zurückzukehren.

Hier muss ich Sie fragen: Wer sind Sie, dass Sie sich berufen sehen, uns andere Christenmenschen zur Besinnung und Umkehr zu rufen? Der Ruf zu Umkehr und Besinnung ist grundsätzlich nie verkehrt. Ich vernehme ihn fast täglich in meiner Bibellektüre. In der Bibel sind es von Gott berufene Propheten, die zur Umkehr rufen. Oder Jesus, oder die Apostel. Was ist es, das Sie in eine entsprechende Position einsetzt? Ich bin sicher, Sie finden einige Bibelstellen, auf die Sie sich berufen können, um Ihre Legitimierung für ihre Initiative zu untermauern. Ich selbst denke etwa an Kol 3,16: „Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit…“, oder an Röm 16,17: „Ich ermahne euch aber, liebe Brüder und Schwestern: Habt ein Auge auf die, welche Anlass zu Spaltung und Ärgernis geben; sie widersprechen der Lehre, die ihr gelernt habt. Geht ihnen aus dem Weg!“. Oder ziehen Sie doch Jud 3 vor: „…darum halte ich es für notwendig, euch mit diesem Brief zu ermahnen, für den Glauben zu kämpfen, der den Heiligen ein für alle Mal anvertraut worden ist.“? Was auch immer Sie als biblische Legitimation vorbringen, kann ich genauso gut und mit exakt gleichem Recht für mich selbst beanspruchen. Am Ende bleibt nur eine Ermahnung unter Geschwistern auf Augenhöhe. Oder wie Paulus scheibt: „Ihr seid der Leib des Christus, als einzelne aber Glieder.“ (1Kor 12,27). Oder wie Jesus sagt: „…einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.“ (Mt 23,8).

Zu einer solchen geschwisterlichen Ermahnung scheint mir aber das Folgende nicht zu passen. Sie bitten Christen und christliche Gemeinden und Organisationen, „mit Hilfe der Erklärung(!)“ ihren Weg zu prüfen. Neben – nein: vor die Bibel stellen Sie Ihre Erklärung als Kriterium zur Beurteilung, ob der je eigene Weg eines Einzelnen oder eines Gemeinwesens der rechte sei.

Ich erkenne Sie als Mitbrüder im Glauben an, nicht aber als Autoritäten. Wir können gerne gemeinsam suchen und ringen um das rechte Verstehen der Heiligen Schrift (diese meine Replik sei ein Beleg, dass ich das durchaus ernstmeine), aber auf Augenhöhe, nicht mit dem autoritären Gefälle, dass Sie wissen, was niemand wissen kann, ausser Gott selbst.

Wie Sie sich wohl vorstellen können, habe ich auch zu den konkreten Inhalten Ihrer Erklärung einige Fragen. Sollte sich aufgrund meiner aktuellen Replik ein weiterführendes Gespräch entwickeln, würde ich mich freuen, auch diese weiteren Fragen in die Debatte einzubringen. Einstweilen hoffe ich, dass meine Replik Resonanz findet, sei es bei Ihnen oder bei den Mitlesenden da draussen, seien es spannungsvolle oder wohlklingende Schwingungen. Solange noch gestritten wird, besteht immerhin das Potential, dass wir gemeinsam, miteinander und voneinander lernen können.

Mit geschwisterlichen Grüssen
Matthijs van Zwieten de Blom

Die Frage der «Autorität» der Heiligen Schrift

Dies ist der zweite von vier Teilen zur Beantwortung von Einwänden, die ich in der Diskussion um die Ehe für alle zu meiner Position immer wieder gehört und gelesen habe. Es geht hierin um die Stellung der Bibel, wenn wir Entscheidungen treffen über die vom christlichen Glauben geprägte Lebensführung bzw. über die Wahrheit bestimmter Aussagen.

Kritikerinnen und Kritiker der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare berufen sich regelmässig auf die «Autorität» der Bibel als das einzig wahre, irrtums- und widerspruchsfreie Wort Gottes. Schon im ersten Teil, über die Priorität des Liebesgebotes, wurde deutlich, dass die These der Widerspruchsfreiheit der Bibel, zumindest was die Anwendung der einzelnen Anweisungen betrifft, nicht haltbar ist. Es gibt darüber hinaus viele Stellen, die ernsthafte Fragen bezüglich ihres historischen Wahrheitsgehalts aufwerfen. Es soll hier aber jetzt nicht um die Plausibilität der Schöpfungsberichte oder der Sintflutgeschichte gehen, sondern noch grundlegender um die Identität von Bibel und Gottes Wort einerseits, und die Autorität des Wortes Gottes andererseits.

Ist die Bibel das Wort Gottes?

Wenn wir die Bibel mit dem Wort Gottes gleichsetzen wollen, müssten wir zunächst die Frage klären, welche Version des biblischen Textes denn das Wort Gottes sein solle. Von keinem einzigen Teil der Bibel ist eine Originalhandschrift überliefert. Die verschiedenen erhaltenen Abschriften weisen zum Teil erhebliche Differenzen auf. Evangelikale Bibelausleger haben mir versichert, dass sie sich sehr wohl bewusst seien, dass es beim biblischen Urtext Varianten gäbe. Sie scheinen diesen Befund jedoch nicht als Problem anzusehen. Ich frage aber schon, wie die Behauptung der Widerspruchsfreiheit der Bibel aufrechterhalten werden kann, wenn es schon auf der reinen Textebene Widersprüche gibt. Darüber hinaus gibt es zwischen den Konfessionen Unterschiede, welche Bücher zum Kanon der Bibel gezählt werden.

Die katholische Kirche stützt sich auf die Vulgata, die altkirchliche lateinische Bibel. Sie enthält die meisten Schriften der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der heiligen Schriften des Judentums in der Antike. Die Reformatoren im 16. Jahrhundert, denen der Rückgriff auf die Originalsprache dieser Schriften wichtig war, haben nur jene Teile der jüdischen Schriften als Teil der Bibel anerkannt, die in der hebräischen Bibel enthalten waren. Die Schriften, die nur in der griechischen Version überliefert waren, nannte man seither «apokryph» (‘neben der Schrift’). In Bibelausgaben von protestantischen Herausgebern sind diese Bücher oder Buchteile nicht oder nur als Anhang enthalten.

Welche Bibel ist also nun identisch mit dem Wort Gottes? Eine redliche positive Antwort habe ich noch nie erhalten. Unredlich sind Behauptungen, wonach eine ganz bestimmte Bibelübersetzung – und nur diese – als das eine, wahre, unverfälschte etc. Wort Gottes gelten solle. Im deutschen Sprachraum wird dies hin und wieder von der Lutherübersetzung behauptet, im englischen Sprachraum erleidet die King James Version erschreckend häufig dieses Schicksal.

Sagt die Bibel selbst, sie sei das Wort Gottes?

Wer uns davon überzeugen möchte, dass die Bibel mit dem Wort Gottes identisch sei, verweist gerne auf eine Stelle im 2. Timotheusbrief (3,16). So zum Beispiel erst kürzlich (Anfang Dezember 2019) Pastor Olaf Latzel an einer Veranstaltung des Netzwerks Bibel und Bekenntnis. In den Kommentaren zu diesem Video  habe ich schon eine Diskussion zu diesem Thema geführt. Hier nochmal die wichtigsten Argumente.

Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit.
(2Tim 3,16)

Die Wendung «von Gott eingegeben» wird gerne als Beleg verstanden, dass die Bibel selbst sage, dass sie von Gott eingegeben sei. Auch hier stellt sich aber als erstes die Frage, worauf sich der Autor des zweiten Timotheusbriefes konkret bezieht. Meint er die Schriften des Alten Testaments? Davon können wir wohl ausgehen. Mit oder ohne die Teile, die wir «Apokryphen» nennen? Wahrscheinlich mit, aber das ist nicht die wichtigste Frage. Die Frage ist: Bezog sich der Autor auch auf das Neue Testament? Historisch und logisch kann man das natürlich nur verneinen. Denn das Neue Testament lag zur Zeit der Entstehung der Timotheusbriefe noch gar nicht vor. Man müsste voraussetzen, dass der Autor dieser Zeilen wusste, dass er gerade am Neuen Testament schrieb, und nicht einfach an irgendeinem Brief. Man gerät zwangsläufig in logische Verstrickungen, wenn man behauptet, 2Tim 3,16 beziehe sich auf die ganze uns vorliegende Bibel. Oder man sagt, der Heilige Geist hätte das ja so diktiert, der Autor hätte gar nicht wissen oder verstehen müssen, was er schreibt, nur dem Geist gehorchen, und schon ist alles erklärt. Tatsächlich wird mitunter genau so argumentiert. Das halte ich nicht nur für ziemlich naiv und unbefriedigend. Es schafft auch das gleiche logische Problem nochmal: man begründet die Behauptung mit der Behauptung selbst.

Bibel und Autorität

Ich ziehe aus dem bisher Beschriebenen den Schluss: Die Bibel selbst sagt nicht über sich selbst, sie wäre das Wort Gottes. So etwas steht in 2Tim 3,16 nicht und kann auch nicht ohne weiteres daraus geschlossen werden, schon gar nicht betreffend das Neue Testament. Es heisst bloss, diese Schriften wären «nützlich», und zwar zur Belehrung und Erziehung und dergleichen mehr. Und im Vers 15 steht noch, dass diese Schriften «Einsicht zu geben vermögen in das, was dir Heil verschafft, durch den Glauben an Christus Jesus». Das ist allerhand, aber es ist nie und nimmer die behauptete Autorität der Bibel. Diese wird ihr von aussen gegeben, sie erschliesst sich nicht aus ihr selbst.

Autorität und Glaube

Überhaupt ist das mit der Autorität im christlichen Glauben so eine Sache. Ich denke, wir kommen hier zur wirklich spannenden Frage: Bedeutet christlicher Glaube überhaupt, dass man sich unter eine Autorität zu fügen hat?

Glaube und irdische Herrschaft

In der Bibel gibt es natürlich Autorität, Herrschaft, und auf der anderen Seite Gehorsam, Unterwerfung oder Gottesfurcht oder wie immer man das geforderte, erwartete, vollzogene oder verweigerte menschliche Verhalten im Einzelfall nennen möchte. Es ist ziemlich problemlos möglich, Bibelstellen anzuführen, die zum Beispiel eine staatliche Ordnung stützen, das obrigkeitliche (kirchlich oder weltlich) Durchsetzen eines disziplinierten, moralisch sauberen Lebenswandels untermauern oder die Bestrafung von Sündern und Ketzern etc. rechtfertigen. Die Herrschenden haben immer gerne und oft erfolgreich die Religion, die Gottesfurcht der Menschen instrumentalisiert, um ihre Macht zu festigen. Die christliche Religion ist da keine Ausnahme. Meine Lektüre der Bibel lässt mir aber erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob sich solcher Gebrauch der Religion zur Ausübung irdischer Autorität zu Recht auf die Bibel berufen kann. Denn die grossen Linien der Bibel erzählen eine sehr herrschaftskritische Geschichte. Gott befreit sein Volk aus der Herrschaft des Pharaos in Ägypten. Zunächst gibt es grosse Vorbehalte am Königtum in Israel, und auch nach David werden die Könige kritisch daran gemessen, ob sie Gott treu waren, und nicht daran, ob sie nach irdischen Massstäben erfolgreich regierten. Jesus sagte vor Pilatus, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Und die Auferweckung Jesu von den Toten zeigt allen irdischen Machthabern, dass ihre Herrschaft nicht über den Tod hinaus reicht. Das revolutionäre Potential des Glaubens an Jesus Christus kommt zum Beispiel im Gebet Mariens, dem Magnificat, sehr schön zum Ausdruck:

Mächtige hat er vom Thron gestürzt
und Niedrige erhöht,
Hungrige hat er gesättigt mit Gutem
und Reiche leer ausgehen lassen. (Lk 1, 52-53)

Glaube und Autorität Gottes

Es ist eine grosse Versuchung zu sagen, Glauben bedeute absoluten Gehorsam gegenüber der Autorität Gottes, die völlige Unterwerfung unter seine Herrschaft. Zeigen würde sich das im strikten Einhalten seiner Gebote, im frommen Beten, im regelmässigen Besuch der Gottesdienste, im Bekämpfen der Sünde und im Bemühen Sünder zu retten. Ich schätze, ich habe soeben das Selbstverständnis vieler Christenmenschen und christlicher Gemeinden recht gut beschrieben.

Ich habe es eine Versuchung genannt, den Glauben so zu sehen. Gewiss, diesen Weg kann man sehr gut mit Bibelzitaten begründen. Aber ich sehe in der Bibel Geschichten, die sich zu diesem einfachen Gehorsam querstellen. Der Name des auserwählten Gottesvolkes, Israel, hat wenig mit Unterwerfung und Gehorsam zu tun. Er bedeutet «Gottesstreiter», und zwar in dem Sinne, dass das Volk nicht für Gott (wie die Jihadisten), sondern gewissermassen GEGEN Gott kämpft, mit ihm ringt. Jakob, der Stammvater, hat in jener denkwürdigen Nacht mit dem Unbekannten gerungen und ihn nicht gehen lassen, bis er dessen Segen erhalten hatte (Gen 32, 23-33). Die Gebote, insbesondere die 10 Gebote, sind als Anweisungen für ein Leben in der Freiheit zu verstehen. Gott erinnert das Volk daran, wer er ist: der Gott, der es aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit hat. Deshalb, weil er die Freiheit des Volkes möchte, nicht mit der Absicht zu unterwerfen, gibt er ihm die Gebote. Die Propheten mahnen das Volk und die Könige, die Treue zu diesem Gott zu wahren, indem das Recht und die Gerechtigkeit für die Armen im Land geschützt werden soll. Und Jesus hat nicht zum absoluten Gehorsam gegen Gott aufgerufen, sondern zur Liebe.

Autorität oder Liebe

Im christlichen Glauben geht es um die Liebe, und zwar um die Liebe zu Gott (als Antwort auf die vorausgehende Liebe von Gott zu uns Menschen) und um die Liebe zu den Mitmenschen. Liebe ist nicht Gehorsam und Unterwerfung unter eine Autorität. Liebe ist Zuwendung und Hingabe in voller Freiheit. Oder es ist nicht Liebe. Die Auffassung, man solle irgendetwas, und sei es die Heilige Schrift, ja sei es Gott selbst! als absolute Autorität anerkennen, wird durch das Liebesgebot, das sogar die Liebe zum Feind miteinschliesst, radikal in Frage gestellt. Gott will nicht Gehorsam, er will Liebe. Er unterwirft nicht, er befreit, und er geht das Risiko ein, dass der Mensch in seiner Freiheit die Liebe zu Gott verweigert. Seine Hoffnung ist, dass wir in voller Freiheit den Weg zu ihm und seiner Liebe finden und beschreiten.

Fazit

So wie ich die Heilige Schrift verstehe, sagt sie nicht über sich selbst, dass sie das Wort Gottes wäre, noch dass sie höchste Autorität wäre, noch dass sie irrtums- und widerspruchsfrei wäre. Solche Auffassungen bezüglich der Bibel sind allesamt von aussen an sie herangetragen. Es sind Vorentscheidungen, die getroffen worden sind, bevor das Buch überhaupt erst aufgeschlagen wurde. Es sind Behauptungen, vielleicht ein Bekenntnis, aber keine absolut und einzig wahren Fakten.

So wie ich die Heilige Schrift verstehe, führt Gott den Menschen in die Freiheit. Freiheit bedeutet Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und Handlungen. In der Freiheit, die von Gott kommt, haben wir auch die Verantwortung, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Das Kriterium dafür ist nicht der tote Buchstabe der Bibel, sondern der lebendige Geist der Liebe.

So wie ich die Heilige Schrift verstehe, bezeugt sie das Wort Gottes. Es geschieht zu Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Rahel und Lea, es geschieht zu Mose und dem Volk in der Wüste, zu den Propheten und zum Haus Davids. Es geschieht zu Maria, es wird Fleisch in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Er ist das lebendige Wort Gottes. Heute geschieht es, wenn wir Menschen zum Vertrauen auf Jesus Christus finden und Taten der Liebe tun.

So wie ich die Heilige Schrift verstehe, haben wir die Freiheit und die Verantwortung, auf angemessene, dem Liebesgebot entsprechende Weise mit unseren Mitmenschen umzugehen, auch mit denen, die vielleicht ein wenig anders lieben als wir. Wir können uns nicht hinter einer behaupteten Autorität von Buchstaben verschanzen. Wir müssen hinstehen vor diese Menschen und von Mensch zu Mensch sagen, was Sache ist. Ich sage euch: Gott liebt euch, und ich kann mir aufgrund meiner intensiven Bibellektüre und meinem bisherigen Leben im Glauben an Christus keinen liebenden Gott denken, der die Liebe von gleichgeschlechtlichen Paaren nicht segnen würde.


… und hätte die Liebe nicht…

In den letzten Wochen wurde ich mit einigen Einwänden zu meiner Argumentation in den bisherigen hier veröffentlichten Gedanken konfrontiert. In den folgenden Tagen und Wochen werde ich mich nach und nach mit den einzelnen Einwänden und Gegenargumenten auseinandersetzen.

  1. Die Liebe als hermeneutischer Schlüssel – als «Brille», durch die ich die Bibel lese
  2. Die Frage der «Autorität» der Heiligen Schrift
  3. Die Sache mit der Schöpfungsordnung
  4. Und schliesslich der Vollständigkeit halber: Mein Kommentar zu den drei Bibelstellen, die immer wieder im Zusammenhang mit Homosexualität zitiert werden.

Heute also erstens: Die Liebe als hermeneutischer Schlüssel

Die Einwände und Gegenargumente, die ich oft zu hören und zu lesen kriege, lauten ungefähr so:

  • Du machst es dir zu einfach. Mit der Liebe bügelst du über alles Unangenehme und Anspruchsvolle in der Bibel hinweg.
  • Du wählst nur, was dir aus der Bibel behagt, verfälschst mit deinem Rosinenpicken den vollen Umfang des Wortes Gottes.
  • Du predigst ein Weichspüler-Evangelium.
  • Du kannst nicht mit dem Argument der Liebe etwas rechtfertigen, was der Schrift klar widerspricht.

Ich werde im Folgenden nicht die Punkte einzeln widerlegen. Aber am Ende meines Textes sollte zu jedem dieser Einwände (und noch einigen mehr) klar sein, wie ich dazu stehe.

Zuerst muss eines klar sein: Ich stelle die Liebe über alles, weil mir das die Bibel so sagt. Ich frage mich, wie man als Christenmensch, der sich ernsthaft und redlich und im Bestreben, Gottes Wort zu hören und zu verstehen mit der Bibel auseinandersetzt, nicht darauf kommt, die Liebe über alles zu stellen! Wenn ich eine Liste der wichtigsten Bibelstellen zum Thema Liebe aufstellen müsste, ich wüsste nicht wo anfangen, und erst recht nicht, wo aufhören. Die nachstehende Aufzählung ist also nicht vollständig, und die möglicherweise in der Reihenfolge wahrgenommene Gewichtung erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Liebe in der Bibel

1. Jesus nenn die Liebe das grösste Gebot:

Er sagte zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das höchste und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Mt 22, 37-40 (und Parallelstellen)

2. Dieses doppelte Liebesgebot hat schon Mose dem Volk vermittelt. Die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst wird in Lev 19, 18 geboten, die Liebe zu Gott ist zum eigentlichen Bekenntnis Israels geworden:

Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Dtn 6, 4-5

3. Jesus nimmt Liebestaten an unseren Mitmenschen persönlich (und auch den Mangel an Liebe):

Und der König wird ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Mt 25, 40.45

4. Gott ist Liebe:

Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Mt 25, 40.45

5. Aus Liebe sendet Gott seinen Sohn:

Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er den einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Joh 3, 16

6. Liebe ist das Erkennungsmerkmal der Christen für die Welt:

Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt. Joh 13, 34-35

7. Ohne die Liebe ist alles nichts:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz, eine lärmende Zimbel. Und wenn ich die Gabe prophetischer Rede habe und alle Geheimnisse kenne und alle Erkenntnis besitze und wenn ich allen Glauben habe, Berge zu versetzen, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts. Und wenn ich all meine Habe verschenke und meinen Leib dahingebe, dass ich verbrannt werde, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts. 1Kor 13, 1-3

Wenn ich neben diese Liste, die nur eine winzige Auswahl darstellt, die paar Stellen betrachte, die sich mit dem gleichgeschlechtlichen Geschlechtsakt befassen, dann sagt mir das schon mal ganz klar, welches Thema für die Bibel wichtiger ist. Es ist für mich offenkundig, dass die Liebe ein sehr zentrales Thema der Bibel ist, und dass dies bei allem, was aus der Perspektive des christlichen, auf die Bibel gründenden, Glaubens heraus gesagt und getan wird, bedacht werden muss.

Der eigene Mangel an Liebe

Wenn ich in meinen theologischen Argumenten die Liebe als Grundlage nehme, sage ich damit nicht, dass ich selbst darin so gut wäre. Wenn ich in der Verurteilung der Homosexualität durch andere Christinnen eine Lieblosigkeit sehe, die ich als solche kritisiere, dann bin ich mir bewusst, dass möglicherweise allein schon diese Kritik an meinen Glaubensgeschwistern einem Mangel an Liebe bei mir selbst entsprungen sein könnte. In Sachen Liebe bin ich selbst ein Lernender. In Kol 3, 16 (und ähnlich in diversen anderen Briefen im NT) heisst es, wir Christen sollen uns in aller Weisheit ermahnen. Auf solche Weisung berufen sich viele, wenn sie Homosexuellen sagen, dass sie in Sünde leben würden. Man müsse doch seine Brüder und Schwestern ermahnen um sie vor Sündenstrafe zu bewahren! Nun, ich ermahne meine Mitlernenden und mich selbst, die Sünde der Lieblosigkeit zu überwinden.

Was die Liebe in der Bibel bedeutet

Mit ganz wenigen Ausnahmen ist im Neuen Testament mit Liebe die Agape gemeint, die Caritas, die Nächstenliebe, die Fürsorge für den Mitmenschen, bis hin zur Selbstaufopferung. Im Matthäusevangelium schliesst die Liebe eine ziemlich starke Kritik am Reichtum ein. Wer selber nichts hat, und dann auch noch dem Mitmenschen mehr gibt, als man selber behält, der erfüllt das Gebot der Liebe. Der lebt wirklich in der Nachfolge Jesu Christi. Nur wer auf den irdischen Besitz verzichtet und alles aufgibt und den Armen verschenkt, der sammelt sich einen Schatz im Himmel. So radikal interpretiert Mt die Botschaft Jesu. Und das ist eine sehr grosse Herausforderung. Es ist unbequem. Mir ist es viel unbequemer als die paar ablehnenden Stellen zur Homosexualität. Denn diese radikale Forderung der Selbstverleugnung und unbedingten und vollständigen Hinwendung zum Mitmenschen scheint mir ziemlich zentral. Mein Leben aber, und das Leben von fast allen Mitgliedern meiner Gemeinde, ist weit von diesem Bild entfernt. Die paar hundert Franken, die ich an die Mission 21 (oder an die Kampagne «Ja zum Schutz vor Hass» zur Abstimmung am 9. Februar) spende, wiegen niemals die krasse Differenz zur biblischen Forderung der Armut auf. In Bezug auf dieses Gebot gebe ich zu, dass ich in meinem Leben und in meinen Predigten das Evangelium weichspüle.

Es dreht sich in der Bibel, in konzentrierter Form im NT, alles um die Agape-Liebe. Paulus schreibt in seinem bekannten Kapitel im ersten Korintherbrief über die Liebe. Er schreibt, dass ohne die Liebe alles andere nichts ist. Das Kapitel wird so oft zitiert und rezitiert und in fast kitschige Zusammenhänge gebracht, dass die Sprengkraft, die diese Worte haben, vielleicht etwas abgeschliffen ist. Aber wenn wir uns den Text eben doch wieder mal im Zusammenhang ansehen, erkennen wir: Paulus schreibt den schwärmerischen, chaotischen und streitsüchtigen korinthischen Christinnen und Christen, dass sie alles rauchen können, worauf sie so stolz sind, dass ihre ganze Weisheit und Zungenrede und Superfrömmigkeit etc. nichts ist. Nur eines zählt: die Liebe. Und in dieser Liebe wird alles Rechthaben und alles Wissen oder Nichtwissen und alle moralische Überlegenheit unwichtig. Denn die Liebe eifert nicht, sie sucht nicht das ihre, sie rechnet das Böse nicht an, sie trägt alles, sie erduldet alles, und so weiter.

Der Konfliktfall

In der Bibel gibt es Stellen, die sind schwer mit dem Gebot der Liebe in Einklang zu bringen. Etwa, dass man seine Kinder mit dem Stock erziehen solle (Spr 23, 13f; 13, 24), dass die Frauen schweigen und Kinder kriegen sollen, um für die Schuld am Sündenfall Abbitte zu leisten (1Tim 2, 11-15), oder eben die Verurteilung gleichgeschlechtlich liebender Menschen (Röm 1, 26f). Wer solche Stellen dem exakten Wortsinn gemäss befolgen will, wird zwangsläufig anderen Menschen Schmerzen zufügen oder sie für das, was sie sind, herabsetzen. Ich sehe in solchen Handlungen eine Verletzung des Liebesgebotes. Ich stehe also vor der Frage: Welche Worte der Bibel gewichte ich höher? Ich kann nicht gleichzeitig das Liebesgebot treu befolgen und die besagten drei Stellen wörtlich in mein handelndes Leben übernehmen. Welches Gebot werde ich also verletzen?

Mache ich es mir wirklich zu leicht, wenn ich so überlege? Ist es billige Rosinenpickerei, die ich betreibe, wenn ich auf die Herabsetzung der Frauen, die Verurteilung der LGBTQ-Menschen und die Züchtigung der Kinder verzichte, weil mich die Liebe etwas anderes gelehrt hat, nämlich dass alle Menschen von Gott gleich geliebt und darum völlig gleichwertig sind, und dass sich Liebe auch wie Liebe anfühlt und nicht wie das Gegenteil?

Lieber Leserin, lieber Leser, urteilen Sie selbst. Ich weiss, wo die Schwächen meiner Argumentation liegt. Nicht bei der Entscheidung im Zweifel die Liebe zu wählen. Sondern wenn schon in meiner eigenen Inkonsequenz bei eben dieser Liebe. Da bleibt am Ende eben noch das Vertrauen auf Christus, die Hoffnung auf seine Barmherzigkeit und die Gewissheit, dass ER mich liebt. Darauf kommt es an. Am Ende nur darauf.